Der Ruf des weißen Raben (German Edition)
warf ihr ab und zu einen flüchtigen Blick zu, sprach sie jedoch nicht an.
Es dauerte nicht lange, bis Chad zum Wagen zurückkam.
»Wir haben Glück. Joseph ist abgeholt worden, um an einem Ältestentreffen in unserem Zeremonienhaus teilzunehmen. Seine Frau fühlte sich nicht gut genug, um ihn zu begleiten.«
»Weißt du, wie wir von hier aus zum Zeremonienhaus kommen?«, wollte Meghali wissen.
Myra und Chad sagten gleichzeitig »Ja« und lächelten einander wehmütig an.
Meghali warf den beiden einen fragenden Blick zu.
»Das Zeremonienhaus war noch nicht gebaut, als ich Boulder Landing verlassen habe, um in Victoria zu studieren und zu arbeiten«, erklärte Myra. »Nachdem ich meinen Job gekündigt hatte, bin ich hierher zurückgekehrt und habe Chad auf einer Bergwanderung kennengelernt.« Ihre Gedanken flogen zurück zu diesem glücklichen Tag. »Am Abend zuvor bin ich an dem Zeremonienhaus vorbeigefahren und habe dort angehalten, um einen Tee zu trinken, denn ich war sehr müde. Das neue Zeremonienhaus war ein Geschenk des Himmels …« Sie lächelte versonnen.
Chad sah sie überrascht an.
»Du hast damals nicht am Zeremonienhaus angehalten.«
»Natürlich!«, erwiderte Myra.
»Du hast mir erzählt, du wärst so müde gewesen, dass du vom Highway abgebogen bist und bis zur Morgendämmerung im Auto geschlafen hast.«
»Ich habe anschließend im Auto auf der Raststätte geschlafen«, sagte Myra zögernd. »Ich meine … Ich weiß es nicht genau …« Sie sah verwirrt von einem zum anderen.
»Bis eben war ich mir noch sicher, dass ich beim Zeremonienhaus angehalten habe. Aber jetzt … Ich kann mich nicht mehr erinnern.« Sie grübelte eine Weile. »Wenn ich dir erzählt habe, dass ich vom Highway abgebogen bin und im Wagen geschlafen habe, dann wird es wohl stimmen«, meinte sie schließlich. »Warum sollte ich dir nicht die Wahrheit sagen?«
»Ich glaube nicht, dass es etwas mit Wahrheit zu tun hat«, meinte Chad zögernd und legte seiner Frau liebevoll die Hand auf den Arm.
»Sondern?«
»Ich glaube, es hat damit zu tun, was Meghali und ich dir schon früher versucht haben zu erklären, mit einer Veränderung in deiner Vergangenheit. Irgendetwas hat sich verschoben. Deshalb kannst du dich nicht genau erinnern. Vieles ist vage, aber ich glaube, mit ein bisschen Glück wird es sich bald verfestigen.«
Eine Dreiviertelstunde später erreichten sie das Zeremonienhaus der Elk Creek First Nation. Chad parkte das Auto auf dem großen Parkplatz, der zu dem Gebäude gehörte. Es standen nur wenige Autos dort, ein Zeichen dafür, dass an diesem Tag kein großes Stammestreffen stattfand, sondern nur ein Zusammentreffen eines bestimmten Clans.
Gemeinsam betraten sie die Eingangshalle. Niemand war zu sehen, aber sie konnten gedämpfte Stimmen hören, die von irgendwoher zu ihnen herüberdrangen.
Myra sah sich um. Die friedliche, einladende Atmosphäre, die in dem Gebäude herrschte, hatte schon immer einen beruhigenden Einfluss auf sie ausgeübt. Chad und sie waren unzählige Male hier gewesen, um an Veranstaltungen teilzunehmen. Meist war Emma an ihrer Seite gewesen.
Emma. Myra zwang sich, nicht an sie zu denken. Sie waren hier, um einen Weg zu finden, wie sie ihr helfen konnten.
Sie blickte sich genauer um. Das Gebäude war sowohl innen als auch außen ganz aus Zedernholz erbaut. Wunderschöne Schnitzereien, die von verschiedenen Stammesmitgliedern angefertigt worden waren, und zwei kleine Totempfähle schmückten die Eingangshalle mit ihrer hohen Decke. Myra liebte den Geruch des Zedernholzes. Heute allerdings mischte er sich mit dem Duft von frischem Kaffee und warmem Mittagessen.
»Das Treffen findet anscheinend in einem der angrenzenden Konferenzräume statt«, sagte Chad leise und ging, gefolgt von Myra und Meghali, auf eine der angelehnten Türen zu.
Er klopfte kurz und wartete auf eine Antwort. Sobald er aufgefordert worden war einzutreten, bedeutete er den Frauen zu warten, dann ging er allein in den Raum.
Myra und Meghali lauschten seiner tiefen Stimme. Er bat um ein kurzes Gespräch mit Joseph Rock Horse. Kurz darauf begrüßte er den alten Mann herzlich. Dann redeten die beiden so leise miteinander, dass die beiden Frauen nichts mehr verstehen konnten.
Es dauerte eine Weile, aber schließlich steckte Chad den Kopf zur Tür heraus und bedeutete Myra und Meghali, ihm zu folgen. Vorsichtig und leise betraten die beiden Frauen den Raum, in dem das Treffen der Ältesten stattfand. Er war
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