Der Ruul-Konflikt 6: Im Angesicht der Niederlage (German Edition)
obersten Schublade seines Schreibtisches einen verzweifelten Blick zu. Er kämpfte noch einen Moment gegen den Drang an, sie zu öffnen, verlor den Kampf jedoch. In der Schublade befand sich nur ein Gegenstand.
Ein zerknittertes Stück Papier.
Vincent nahm das Papier heraus, wie er es schon Dutzende Male zuvor in den letzten Jahren getan hatte, glättete es und las es, obwohl er den Wortlaut bereits auswendig kannte. Jedes Mal wenn er das Schreiben hervorholte, hoffte er, die Worte würden sich wie durch Zauberhand ändern und die letzten sechs Jahre irgendwie auslöschen, doch seine Hoffnungen wurden jedes Mal enttäuscht.
Es war ein Versetzungsbefehl, der ihm befahl, sich mit seinem Schiff innerhalb von zwei Wochen bei der 2. Flotte einzufinden, um dort einen Posten anzutreten. Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch daran geglaubt, es handele sich um einen Glücksfall. Er bekam sein eigenes Geschwader und bekleidete von nun an den Rang eines Commodore. Er hatte sich gefreut. Und sogar seine Besatzung hatte drei Tage lang gefeiert. Das Flaggschiff eines Geschwaders zu sein, brachte für alle Besatzungsmitglieder Vorteile. Und sei es auch nur dieser, dass sich der Sold aller an Bord diensttuenden Soldaten um eine Stufe erhöhte. Also hatte er Taradan, Admiral Karpov und die 17. Flotte verlassen und sich der 2. Flotte bei Rainbow angeschlossen.
Doch der Preis dafür war unglaublich hoch gewesen. Es hatte ihn seine Ehre gekostet. Jedenfalls sah er es so.
Drei Monate nachdem er sich bei der 2. Flotte gemeldet hatte, waren die Ruul über die Milchstraße hergefallen. Und Taradan war ihr erstes Angriffsziel gewesen. Seitdem war jeglicher Kontakt zu dem belagerten System abgebrochen. Karpov und das System hielten noch stand. Gar keine Frage. Das war allerdings auch das Einzige, was sie von Taradan wussten.
Vincent hatte fast drei Jahre unter Karpov gedient und sich auf Taradan eingelebt. Er hatte Freunde innerhalb der 17. Flotte. Viele Freunde. Und er wusste nicht einmal, ob sie noch lebten oder bereits tot waren. Er hätte bei ihnen sein müssen, als die Invasion begann. Es wäre seine Pflicht gewesen, dort zu sein. Sein Schiff hätte zwar keinen großen Unterschied gemacht – das wusste er mit glasklarer Sicherheit –, doch das spielte auch keine Rolle. Er hätte einfach dort sein müssen. Um an der Seite seiner Freunde zu kämpfen und notfalls auch zu sterben. Dass er nicht dort gewesen war, nagte an ihm. Es nagte schon seit über sechs Jahren an ihm.
Vincent legte den Versetzungsbefehl beiseite und starrte tief in Gedanken versunken ins Leere.
Seine Gedanken wanderten viele Jahre zurück, zurück zu dem Tag, an dem das Rainbow-System fiel. Es war kaum zu glauben. Er erinnerte sich an alles von diesem Tag: was er gefrühstückt hatte, mit wem er auf dem Weg zur Brücke gesprochen hatte und über was, welchen Tagesablauf er eigentlich geplant hatte. Er erinnerte sich an alles. Es war ein guter Tag gewesen. Zumindest hatte er als guter Tag angefangen.
Dann waren die Ruul gekommen und binnen kürzester Zeit war das System im Chaos versunken und die 2. Flotte stand hilflos daneben und konnte nur noch retten, was zu retten war. Das Rückzugsgefecht aus dem System war schlichtweg brutal gewesen. Sie hatten fast ein Drittel der Evakuierungsschiffe der Kolonie verloren, die sie eigentlich hatten beschützen sollen. Und fast die Hälfte ihrer Kriegsschiffe. Einschließlich der TKA Athen – des Flaggschiffs des Admirals –, eines großen Prozentsatzes von Vincents neuem Kommando und jedes einzelnen Commodores der 2. Flotte. Mit Ausnahme von Vincent selbst. Plötzlich hatte er sich an der Spitze der Überlebenden wiedergefunden und hatte die 2. Flotte und die Evakuierungsschiffe aus dem System geführt. Noch heute überkamen ihn hin und wieder Albträume von diesem Tag. Die Schreie der Sterbenden und Verwundeten, das Knistern der Feuer, die eintreffenden Schadensmeldungen, das Verlöschen einzelner Symbole, sobald wieder Schiffe dem ruulanischen Angriff zum Opfer fielen: All diese Dinge waren in seinem Geist noch furchtbar lebendig.
Der Kommandant der Lydia seufzte tief. Erst war er nicht in Taradan gewesen, als der Angriff begann, und dann hatte er nicht einmal Rainbow schützen können. Schlimmer noch, auf dem Rückzug hatten sie viel zu viele Evakuierungsschiffe verloren.
Eine sanfte Hand legte sich auf seine Schulter.
»Sie lieben es wohl, sich selbst zu quälen, was?«, sagte sein XO.
Vincent senkte betreten den
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