Der Samurai von Savannah
offenen Fenster anklagend anzustarren schien. Sie war noch da. Ebenso wie die Seite, an der sie zuletzt gearbeitet hatte; sie steckte noch in der Maschine, durch die Luftfeuchtigkeit eingerollt wie ein Hobelspan. Sie nahm sich einen Augenblick Zeit für die gierigen, tiefschlundigen Kannenpflanzen, die sie im Sumpf ausgegraben hatte – sie fingen gern Insekten, fette blaue Schmeißfliegen, deren Surren vor dem rostigen Maschendraht des Fensters einen zur Raserei trieb –, dann machte sie sich eine Tasse Kaffee auf der Elektroplatte, ging ein halbes Dutzend Mal hinaus, um das Nahen des Gewitters abzuschätzen, und schließlich, als die Langeweile ihr Gehirn abzuschalten drohte, setzte sie sich an die Maschine.
Sie versuchte es. Wirklich. Aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Die Erzählung, an der sie arbeitete, sollte aus unterschiedlichen Perspektiven die Geschichte einer japanischen Hausfrau wiedergeben, die versucht hatte, sich samt ihren zwei kleinen Kindern in der Santa Monica Bay zu ertränken, nachdem ihr Ehemann sie verlassen hatte. Die Sache war durch alle Zeitungen gegangen. Die Kinder waren ertrunken, die Frau dagegen war mit vollgesogenen Lungen, wunder Kehle und salzverklebten Augen von einem siebzehnjährigen Surfer aus dem Wasser gezogen und wiederbelebt worden. Die Perspektive des Surfers hatte Ruth auf Papier, kein Problem. Die Kinder waren schon weit schwieriger. Und die Mutter – was war wohl in ihr vorgegangen?
Ruth arbeitete eine Stunde, jedenfalls kam es ihr wie eine Stunde vor – sie besaß keine Möglichkeit, die Zeit zu messen, und war froh darüber –, indem sie den ersten Absatz immer wieder umschrieb, bis er ihr vollkommen sinnlos erschien. Sie war einfach nicht mit dem Herzen dabei. Immer wieder musste sie an Saxby denken. Am Abend zuvor hatten sie die Fähre zum Festland genommen und waren zum Abendessen und auf ein paar Drinks nach Darien gefahren. Auf dem Rückweg war er von der Hauptstraße abgebogen, und sie hatten sich auf der Motorhaube geliebt. Er hatte sich gegen die Windschutzscheibe gelehnt, am ganzen Körper steif, sein Schwanz, seine Schenkel, die waschbrettartigen Bauchmuskeln, und sie hatte sich auf ihn hinabsinken lassen, sanft wie eine Blüte. Und dann dachte sie an das Gewitter. Und dann an das Große Haus mit seinen siebenunddreißig Zimmern und dem Dienstbotentrakt, einst das Herzstück einer Baumwollplantage, auf den Feldern schweißüberströmte Sklaven, Maultiere und Vorarbeiter und so weiter, und an Saxbys Urahnen, die mit der Peitsche in der Hand auf ihren Einspännern saßen. Sie dachte an Vom Winde verweht, Roots, Die Bekenntnisse des Nat Turner , und dann kehrte sie zu ihrer Geschichte zurück, versuchte angestrengt, sich die Hauptfigur vorzustellen, die wahnsinnige, von ihrer eigenen Kultur abgeschnittene Frau, die Augen mit den schweren Lidern, die schmalen Hände und Finger, und auf einmal sah sie das Gesicht von Hiro Tanaka – starr vor Schreck im kalten Dämmerlicht des Peagler Sound.
Ein Chinese. Sie hatte ihn für einen Chinesen gehalten. Allerdings war sie nie weiter in den Orient vorgedrungen als bis zu den Sushi-Bars von Little Japan oder den Chop-Suey-Restaurants von Chinatown, und bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie noch nie im Leben die eine Nationalität von der anderen unterscheiden müssen. Stand auf dem Schild über der Tür »Vietnamesisch«, dann waren es Vietnamesen, wenn »Thailändisch« draufstand, waren es Thais. Asiaten waren für sie nur Menschen, die Reisgerichte servierten. Ein Chinese. Wie dumm von ihr. Da versuchte sie krampfhaft, sich eine japanische Hausfrau anhand einer Zeitungsmeldung vorzustellen, und ein echter, lebendiger Japaner aus Fleisch und Blut – ein Desperado, ein flüchtiger Arrestant – sprang ihr praktisch in den nackten Schoß, aber sie hielt ihn für einen Kellner aus dem Chinarestaurant.
Es war seltsam. Sein Bild ging ihr einfach nicht aus dem Kopf. Wo war er? Was aß er? Woran dachte er? Vor einer Woche war er an Land gegangen, und er lief immer noch frei herum, versteckte sich irgendwo tief im Gestrüpp. Berichte über ihn hörte man von allen Seiten – Saxby schwor, er habe ihn hinter dem Cribbs-Supermarkt in den Büschen verschwinden sehen –, aber wo war er? Die ganze Insel war in hellem Aufruhr, von den Schwarzen bei Hog Hammock bis zu den krampfadrigen Pensionären der Villensiedlung Tupelo Shores Estates. Den Zeitungen zufolge handelte es sich um einen reichlich verzweifelten
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