Der Samurai von Savannah
das Gleichgewicht zurück. »Ja, das fände ich nett«, erwiderte sie und bückte sich, um einen imaginären Juckreiz in ihrer linken Kniekehle zu stillen, »aber ein andermal. Recht bald. Für heute Abend habe ich leider schon etwas vor.«
Abercorn schien das nicht zu beeindrucken. Er beugte sich dicht zu ihr vor und blickte sie lange und bedeutungsschwanger an. »Na ja«, sagte er und ließ seine Stimme ein wenig rauchig klingen, »ich weiß nur nicht, ob ich noch lange genug hier bin.«
Ruth sah ihre Chance. »Ach? Kein Glück?«
Er verdrehte angewidert die Augen. »Der Typ ist verschwunden. Könnte genauso gut tot sein, wir haben keine Ahnung. Entweder das oder er ist längst weg von der Insel.«
»Und Ihr Assistent? Der mit dem Gettoblaster?«
Abercorns Lachen war kurz und melodisch. »Na ja, das ist eine andere Geschichte.« Er machte eine Pause. Sie konnte sich nicht beherrschen und starrte ihm in die Augen – sie hatte noch nie jemanden mit so einer Augenfarbe gesehen. »Also, das ist Ihr Zimmer, ja?« begann er. »Ich hatte ja eigentlich gehofft, dass Sie, äh –«
Sie legte ihm die Hand auf den Arm. »Sie sind wirklich nett«, sagte sie, »aber hören Sie, ich muss leider weg. Wirklich. Mir ist gerade eingefallen, dass ich wahrscheinlich die Kochplatte in meinem Studio nicht abgeschaltet habe, und –«
»Das ganze Genie ein Raub der Flammen, wie?«
»So was Ähnliches«, sagte sie, duckte sich unter seinem Arm hindurch und rannte durch den Korridor davon.
Aber es war noch nicht vorbei.
Sie lief die Treppe hinunter, nahm zwei Stufen auf einmal, die schwarze Mülltüte unter den Arm geklemmt, und sie dachte nur an Hiro, ihr Geheimnis, ihren Schatz, der mit dem Gesicht nach unten auf dem Rattansofa in dem schattigen Studio im Wald lag. Ob er noch da war, wenn sie zurückkam? War er aufgewacht und glaubte, sie wäre zur Polizei gegangen? Hatte Turco einen Boogie durch die Maschendrahttür getanzt und Hiro mit seinem Radio niedergeknüppelt? Am allerwenigsten dachte sie jedenfalls an Saxby. Doch der stand da, am Fuß der Treppe, wankte breitbeinig unter einem gewaltigen, zwei Meter langen Aquarium die Stufen empor. »Ruthie«, ächzte er. »Ich bin … wieder da!«
Jetzt sah sie, dass sich am anderen Ende des Riesenbeckens Owen bemühte und dass die beiden versuchten, das Ding um den Treppenabsatz herumzumanövrieren und es durch den schmalen Gang in Saxbys Zimmer zu bringen. Das Unternehmen stoppte einen Moment lang, als Ruth die Treppe herunterkam, Saxbys Lippen mit einem Kuss streifte und ihm zuflüsterte: »Du hast mir gefehlt«, und dann wurde das Aquarium weitergewuchtet, Lichtreflexe huschten über die Wand, und Ruth war zur Tür hinaus, ging die Stufen hinab und überquerte den Rasen. Sobald sie den Waldrand erreicht hatte, fiel sie in Laufschritt.
Sie war ganz außer Atem, als sie das Studio erreichte. Seitenstechen bohrte in ihr wie mit Stricknadeln. Sie wünschte sich, dass er noch da wäre, wollte mit ihm sprechen, ihn waschen und seine Wunden verbinden, ihm beim Essen und Schlafen zusehen und das erloschene Licht in seinen Augen wieder zum Funkeln bringen – aber als sie den Pfad entlangkam, wusste sie irgendwie, dass er weg sein würde. Das Studio war unverändert. Sie sah die vertraute Veranda, die sonnenbeschienenen Fenster, die Kiefern, Palmen und Eichen, sie hörte die Vögel in den Ästen und roch den vollen schweren Atem des Ozeans, und nichts war anders als zuvor. Schwer atmend nahm sie die Stufen und zog behutsam die Fliegentür auf: Der Raum war leer.
Wütend auf sich selbst – hätte sie ihm nur gesagt, wohin sie ging, hätte sie doch Abercorn eher abgeschüttelt, wäre sie doch auch auf dem Hinweg gerannt! –, warf sie die Tüte auf den Boden und ließ sich in den Schaukelstuhl am Fenster fallen. Er war weg. Nun würde er ihr nie mehr vertrauen. Aber was machte das schon? Was ging sie das an? Sollte er doch verhungern. Lange Zeit schaukelte sie so, während die Schatten länger wurden und die Stille des Abends sich über Bücher und Schreibmaschine, Kochplatte und Kannenpflanzen legte, über all die vertrauten Gegenstände ihres kleinen Lebens an diesem zeitweiligen Außenposten. Und dann, irgendwann endlich, kam ihr der Gedanke – ein Gedanke so spitz wie eine Nadel –, dass er sie vielleicht auf die Probe stellte. Womöglich kauerte er in diesem Moment da draußen im Gestrüpp, beobachtete sie und wartete. Na gut, dachte sie und erhob sich aus dem Stuhl. Sie goss
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