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Der Sand der Zeit

Titel: Der Sand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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weit prächtigere und bemerkenswertere Fundstücke im Zimmer als dieses un-scheinbare Metallblättchen, doch ohne das Gefühl begründen zu können, spürte ich einfach, daß es damit etwas Besonderes auf sich hatte.
    Zögernd hob ich die Hand, nahm die Scheibe vom Regal und trat ans Fenster, um sie im Sonnenlicht genauer zu betrachten.
    Es war eine Art Medaillon. In seinen Rand war ein Loch gebohrt worden, durch das früher vielleicht einmal eine Kette oder ein Lederriemen geführt hatte. Auf der Vorderseite war unter dick verkrustetem Schmutz und Grünspan ein Teil eines Wikingerschiffes zu erkennen; die Rückseite zeigte ein verschlungenes Symbol, das vage an eine Kreuzung zwischen einer Schlange und einem geflügelten Drachen erinnerte.
    Ich runzelte verwirrt die Stirn. Ich hatte keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte, doch irgend etwas sagte mir, daß dieses Medaillon mehr war als ein Stück totes Metall.
    Irgendwo, tief in ihm, schien etwas zu leben …
    Achselzuckend, und weit beunruhigter, als ich mir einge-stehen wollte, wandte ich mich um, steckte das Medaillon in die Tasche und trat erneut an das Regal heran.
    Der Schritt rettete mir das Leben.
    Ich sah die Bewegung aus den Augenwinkeln, aber meine Reaktion wäre viel zu spät gekommen.
    Etwas Dunkles, Langes zischte weniger als eine Handbreit an mir vorbei, krachte in die Fensterbank und zertrümmerte den fünf Zentimeter dicken Marmor. Ich wirbelte herum,
    und erstarrte.
    Die Tür hatte sich geöffnet, ohne daß ich es bemerkt hatte,
    und in der Öffnung stand ein gewaltiger, rothaariger Wikinger! Es war der Krieger, der uns unten in der Halle angegriffen hatte, aber er hatte sich auf bizarre Weise verändert.
    Sein Totenkopfgesicht war zum finster dreinblickenden Antlitz eines lebenden, atmenden Menschen geworden. Der gewaltige Hörnerhelm auf seinem Schädel funkelte und blitzte, und der halb vermoderte Brustharnisch bestand wieder aus dunklem, geschmeidigem Leder.
    Die Mumie hatte sich in den Menschen zurückverwandelt, der sie einmal gewesen war! Die furchtbaren Löcher, die Crandells und meine Geschosse in ihren Brustpanzer geschlagen hatten, waren verschwunden, und selbst der verletzte Arm war wieder unversehrt.
    Ich wich mit einem unterdrückten Schreckensschrei zurück, als der Krieger den Raum betrat. Er war so groß, daß er das Haupt beugen mußte, um nicht mit seinem gewaltigen Hörnerhelm an den Türrahmen zu stoßen, und seine Schultern schienen die schmale Öffnung beinahe zu sprengen. In seiner linken Hand blitzte ein Schwert; mit der anderen hatte er die Axt geschleudert, die mich um ein Haar getötet hätte.
    Ich sah mich ebenso verzweifelt wie vergeblich nach einem Fluchtweg um. Der Wikinger kam näher, blieb auf der anderen Seite des Schreibtisches stehen und musterte mich aus brennenden Augen. Er hatte ein hartes, sonnengegerbtes Gesicht, und um seinen Mund lag ein grausamer Zug. Seine Hände, jetzt keine verkrümmten Leichenkrallen mehr, schienen kräftig genug, einen normal gewachsenen Mann ohne Mühe in der Mitte durchbrechen zu können, und die Art, wie er das Schwert hielt, sagte mir, daß er ein Meister in der Handhabung dieser Waffe war.
    Langsam begann ich den Schreibtisch zu umkreisen. Der Riese folgte mir, hielt sich aber stets so, daß er mir sofort den Weg abschneiden konnte, falls ich versuchen sollte, die Tür zu erreichen. Meine Gedanken überschlugen sich. Ich brauchte eine Waffe, irgend etwas, um mich zu wehren. Bei unserem ersten Aufeinandertreffen hatte ich ihn erst besiegt, als ich ihn mit seiner eigenen Waffe angriff; einem Gegenstand, der so alt war wie er selbst. Und davon gab es ja nun wahrlich genug hier …
    Ich fuhr herum, riß einen der runden Schilde vom Boden hoch und griff mit der anderen Hand nach einem Schwert.
    Das Gewicht der Waffen überraschte mich, sie waren so schwer, daß mich der Schild fast zu Boden zog, und ich bezweifelte, daß ich das Schwert überhaupt handhaben konnte. Trotzdem drehte ich mich sofort wieder um und trat dem Giganten einen halben Schritt entgegen.
    Der Wikinger war stehengeblieben und hatte meine Vorbereitungen aus spöttisch glitzernden Augen beobachtet, und plötzlich begriff ich, daß er mich wahrscheinlich mit Leich-tigkeit bereits ein halbes Dutzend Mal hätte tranchieren können, wenn er es wirklich gewollt hätte. Ich kam mir vor wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel. Leider hatte ich nicht den Part der Katze.
    Der Wikinger wechselte sein eigenes Schwert von der linken

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