Der Sarg: Psychothriller
längst angebunden in einem Anstaltsbett und dachte nur, sie hätte sich gerade noch zu Hause mit den Polizisten unterhalten? Vielleicht bildete sie sich ja überhaupt alles nur ein, und ihr ganzes Leben war ein nicht enden wollender Albtraum? Sie hustete. Die Atemluft wurde immer knapper. Flach atmen, Eva, ganz flach.
Muss hier
raus!
Wir wollen doch die Zeit, bis wir wieder aufwachen, möglichst ohne Erstickungsanfälle hinter uns bringen, nicht wahr? Erneutes Kichern. Dumm nur, dass sie sich nachher, nach dem Aufwachen, wahrscheinlich wieder fragen würde, ob das ein Traum gewesen war oder die Realität. Wenn sie nur irgendwie … Husten … Reiß dich zusammen, Eva, denk endlich nach, wenn du das nicht immer wieder erleben willst.
Ich muss hier raus! Denk nach.
Wie konnte sie ihrem wachen Ich mitteilen, dass das hier gerade ein Traum war … eine Botschaft. Ja, das war es doch. Eine Botschaft, etwas, das sie sicher wissen ließ, dass … Ja, genau, Eva, eine Botschaft aus dem Sarg.
Etwas, das eigentlich nicht mehr da sein dürfte, wenn ich aufwache.
Ihre Finger tasteten an den Seitenwänden entlang, fanden aber nicht, was sie suchten. Also tastete sie den Deckel über sich ab und wurde fündig. Direkt auf Höhe ihres Gesichts, rechts in der Ecke, wo der Deckel auf der Seitenwand auflag, konnte sie ein Stück des Stoffs packen, mit dem der Sarg ausgekleidet war, einen kleinen Zipfel, der etwas herausstand. Sie konnte immer schwerer atmen, es war, als würde sich die Luft dagegen sperren, als würde sie immer … dicker werden.
Gut, dass ich nicht dick bin,
dachte sie
. Dann wäre hier drinnen noch weniger Platz.
Andererseits wäre sie dann wahrscheinlich schon wieder aufgewacht, weil kein Sauerstoff mehr in dem Sarg war. Kein Sauerstoff.
Schlecht, Eva, ganz schlecht.
Sie zog an dem Stoffzipfel und spürte, wie er ein wenig nachgab, aber das Geräusch fehlte, auf das sie gehofft hatte. Sie versuchte es erneut, packte mit Daumen und Zeigefinger zu, so fest sie konnte, und zog mit aller Kraft. Der Stoff gab zuerst wieder nicht nach, dann aber riss er doch, es gab keinen Widerstand mehr, und ihre Hand schnellte zurück und schlug gegen ihren Mund. Der Schmerz trieb ihr Tränen in die Augen, und nur Sekunden später spürte sie den kupfernen Geschmack frischen Bluts auf ihrer Zunge. Sie stöhnte auf, verdrängte aber im nächsten Moment alle Schmerzen, als ihr bewusst wurde, dass sie Erfolg gehabt hatte. Sie spürte, dass sie ein abgerissenes Stück Stoff zwischen den Fingern hielt. Husten. Es wurde immer enger. Sie überlegte fieberhaft, dann tastete sie an sich herab. Sie trug keine Hose, aber einen Slip. Dort hinein stopfte sie das Stoffstück, an die Seite. Würde sie sich daran erinnern, wenn sie aufwachte? Würde sie aufwachen? Wäre das Stoffstück dann noch da? Das Atmen wurde fast unmöglich, und in dem krampfhaften Versuch, den verbliebenen Sauerstoff mit aller Gewalt in ihre Lunge zu pressen, fiel die Panik sie wieder an, hinterrücks und so überraschend, dass sie sich nicht dagegen wehren konnte und sich dem chaotischen Strudel ihres taumelnden Verstands ergeben musste. Krächzend, den letzten Rest Sauerstoff verbrauchend, wehrte sich ihr ganzer Körper verzweifelt gegen den Sarg und …
… Evas Blick strich über die Uhr auf dem Sideboard schräg gegenüber der Couch. Sie riss sich davon los und sah sich um. Es war zweifelsfrei ihr Wohnzimmer, in dem sie saß. Nahtlos, ohne Übergang. Sie schüttelte den Kopf, presste die Fingerspitzen der Mittelfinger gegen ihre Schläfen und legte die Hände dabei auf ihre Wangen. Es überraschte sie nur wenig, dass ihre Handgelenke und Handballen höllisch schmerzten. Und auch die Füße und ihre Hüfte … Sie überlegte, dass es trotzdem anders war als beim ersten Mal. Kein langsames Erwachen, kein Stück für Stück Zurückgleiten aus diesem furchtbaren Traum in die Realität. Kein Erwachen am Morgen in ihrem Bett. Im Bruchteil einer Sekunde hatte sich das Bild verändert, das sie wahrnahm. Die Schwärze innerhalb des geschlossenen Sargs war in einem einzigen Augenblick ausgetauscht worden gegen ihre Uhr in Säulenform auf dem Sideboard gegenüber, gegen Tageslicht. Und nicht nur das. Hatte sie sich gerade noch liegend gewunden und gegen die Wände und den Deckel des Sargs gekämpft, so saß sie jetzt, nur einen Augenblick später, aufrecht auf ihrer Couch. War sie im Sitzen eingeschlafen und hatte geträumt? Ein Tagtraum? Konnte ein Traum so abrupt enden?
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