Der Sarg: Psychothriller
Träume aufhörten. Oder sollte sie es besser
Erlebnisse
nennen? Wenn sie das noch mal erleben musste, wenn sie das nächste Mal in diesem Sarg eingeschlossen war, würde sie vielleicht tatsächlich und endgültig den Verstand verlieren. Irgendetwas stimmte mit ihr ja offensichtlich nicht. Schon immer. Ihr ganzes Leben lang hatte sie es geschafft, sich dagegen zu wehren, von irgendwelchen Psychokerlen untersucht und womöglich für verrückt erklärt zu werden. Sie war zurechtgekommen, auch wenn ihr hier und da die Erinnerung an ein paar Stunden des Tages fehlte. Aber nun, da die Erinnerung an diesen schrecklichen Sarg sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, die Schmerzen, die Gefühle, die Angst, vor allem die Angst –, nun musste sie Hilfe finden. Es
musste
aufhören.
Sie gab sich einen Ruck, zwang sich dazu, die Tür zu öffnen und auszusteigen, zu dem Haus mit dem Messingschild zu gehen.
Die Haustür war offen, vor ihr lag ein Flur, in den von einem Oberlicht über der Tür Tageslicht hereinfiel. Auf der linken Seite führte eine Treppe nach oben, ein Schild an der Wand rechts neben der Tür wies darauf hin, dass die Praxis am Ende des Flurs lag. Sie folgte dem Schild und betrat einen kleinen Raum mit ein paar Stühlen darin, der offenbar das Wartezimmer war. Einen Empfang mit einer Sprechstundenhilfe gab es nicht. Eva hängte ihren Mantel an die Garderobe und saß dann allein in dem gemütlich eingerichteten Raum, bis sich nach ein paar Minuten die Tür öffnete und Dr. Leienberg sie begrüßte.
Er war ein großer, durchtrainierter Mann von mindestens eins fünfundachtzig. Eva schätzte ihn auf Anfang vierzig, und ihr fiel sofort seine freundliche Ausstrahlung auf. Eine randlose, schmale Brille verlieh seinem Gesicht einen akademischen Ausdruck, der durch die raspelkurz geschnittenen dunklen Haare noch unterstützt wurde. Seine sehnige Hand, die er ihr entgegenstreckte, war sehr gepflegt, die Nägel manikürt. »Guten Morgen Frau Rossbach, schön, dass Sie zu mir kommen. Aber bitte, kommen Sie doch herein.« Leienbergs Stimme bildete einen weichen Kontrast zu seinem Körper. Im Gegensatz dazu hatte er einen festen, aber nicht schmerzenden Händedruck. Er bat Eva in einen großen Raum, der offensichtlich sein Behandlungszimmer war, und sie hätte beinahe ein Lachen ausgestoßen, als sie links an der Wand tatsächlich die obligatorische Couch mit dem Stuhl schräg davor entdeckte. Den Bodenbelag bildete ein edel aussehendes Parkett, das in der Raummitte von einem großen orientalischen Teppich bedeckt wurde. Vor dem Fenster auf der gegenüberliegenden Seite stand ein großer Schreibtisch aus dunklem Holz, hinter dem der Psychiater nun Platz nahm. Eva blieb unschlüssig stehen, bis Leienberg lächelnd auf einen der Stühle vor seinem Schreibtisch deutete. Er wartete geduldig, bis sie saß. Eva betrachtete die etwa zwanzig Zentimeter hohe, gläserne Figur eines Golfspielers, die sich vor ihr auf dem Schreibtisch befand. Auf dem Marmorsockel, auf dem sie stand, war etwas eingraviert, was sie aber nicht lesen konnte.
Leienberg nahm einen Stift in die Hand, rollte ihn zwischen den Fingern hin und her und sah sie an.
»Eva – ich darf doch Eva sagen?« Er wartete keine Antwort ab, sondern sprach ohne Pause weiter. »Wiebke hat mir am Telefon nicht viel erzählt, außer, dass Sie sehr realistische Albträume haben. Ich werde Sie nachher bitten, mir mehr darüber zu erzählen, aber zuerst würde ich Sie gerne ein wenig kennenlernen. Wenn Sie gestatten, stelle ich Ihnen ein paar Fragen, und Sie antworten einfach spontan, was Ihnen dazu einfällt. Ich weiß, das ist nicht sehr angenehm, aber es ist wichtig zur Anamnese und zudem der einfachste Weg, ein paar grundsätzliche Dinge über Sie zu erfahren. Es dauert auch nicht lange, und danach werden wir uns dann ganz entspannt unterhalten, einverstanden?«
»Ja, einverstanden.«
Wieder schenkte er ihr sein warmes Lächeln, und Eva spürte, dass sie sich etwas entspannte.
»Gut, beginnen wir mit den Daten, die Wiebke mir genannt hat, und schauen, ob die stimmen. Ihr Name ist Eva Rossbach, geboren sind sie am 13 . März 1975 , Sie sind ledig und haben keine Kinder. Richtig?«
»Ja, das stimmt.«
Sein Blick veränderte sich, und seine Stimme wurde noch eine Spur leiser und sanfter. »Sie hatten eine Schwester, die Frau, über die ich in der Zeitung gelesen habe?«
Eva schluckte. »Ja, Inge. Sie ist ermordet worden. Aber sie war nur meine
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