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Der Schacht

Der Schacht

Titel: Der Schacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David J. Schow
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war wirklich ein Witz. Kennen Sie mich? Mein Name ist Jamaica -jedenfalls zurzeit –, und ich war einmal ein menschliches Wesen.
    Sie hörte noch mehr heftiges Geplansche. Sie versuchte Jonathan auszumachen, der irgendwo da unten in dem Dreck hing, aber der Gestank, der von dort heraufzog, war ihr einmal zu oft in die Nase gestiegen. Es war der Gestank von toten Tieren, die in Verwesung übergegangen waren und in denen die Parasiten sich tummelten. Das Verlängerungskabel scheuerte über die morsche Fensterbank. Glücklicherweise war die Badewanne bis ganz an die Wand gerutscht und konnte jetzt unter Jonathans pendelndem Gewicht nicht weiterrutschen. Sie hatte gesehen, wie sich die oberste Kletterschleife zugezogen hatte wie das Auge einer schlafenden Katze.
    Sie hatte gewusst, was in der Keksdose war. Sie hatte es von Anfang an gewusst, selbst als sie die Waffe noch nicht gesehen hatte. Das Gewicht der Dose hatte ihr alles verraten. In einem Moment unerwarteter Klarheit sah sie, dass die Pistole mindestens ebenso sehr die Freiheit bedeutete wie das Kilo Kokain auf dem Toilettendeckel.
    Sie hatten alle davon geredet, die Dinge zu verändern, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Jetzt, wo sie im Begriff war, das tatsächlich zu tun, fühlte sie, wie etwas in ihr davor zurückschreckte. Nein. Bleib besser da, wo du bist. Klammer dich an das, was du hast, statt es aufs Spiel zu setzen. Wenn man etwas riskiert, dann spielt man, und wenn man spielt, dann kann man auch verlieren. Halt dich an der Sicherheit fest, die du um dich aufgebaut hast, und frag bloß nicht nach mehr. Du hast eine so schöne kleine Festung um dich aufgebaut; es wäre Dummheit, jetzt hinauszugehen und diese schützenden Mauern zu verlassen, und die Sicherheit, die sie geben, und …
    »Beeil dich!« Das war Jonathan. »Mach schnell mit dem verdammten Seil, verflucht noch mal. Tempo!«
    Er hatte seine eigene Verhaltensmaßregel gebrochen und gerufen, seine Stimme heftig verstärkt durch den metallenen Tunnel, hohl und verloren. Etwas war schiefgegangen. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
    Das Seil war völlig abgerollt. Jamaica stieg in die Wanne. Ihre Stiefel rutschten auf der Feuchtigkeit und der verbliebenen Pampe aus der Mülltüte, die immer noch neben dem Abfluss lag wie ein toter Rochen – kraftlos, aber immer noch tödlich. Sie schob sich durch das Fenster und schwenkte das Seilende hin und her. Wenn Jonathan es noch nicht in Händen hielt, dann war es irgendwo hängen geblieben oder hatte sich verheddert.
    Das Licht seiner Lampe huschte über ihr Gesicht und blendete ihre Augen. Sie wandte den Kopf ab, für eine Sekunde blind. Beim Spiel des Lichtstrahls über die dick beschmierten Wände hatte sie einen kurzen Eindruck davon gewinnen können, wie glitschig der ganze Schacht war. Absolut eklig.
    Die Kletterschlingen hatten sich verheddert und bildeten einen dicken Knoten. Sie fühlte jetzt, wie er sich löste.
    Inzwischen machten sie beide zusammen einen Höllenlärm. Sie hörte eine andere Stimme in einem anderen Appartement zurückschreien. Ruhe da unten. Noch ein Tenor in der Symphonie diese Hauses.
    Der Lichtstrahl unter ihr tanzte. Das Seil pendelte, dann zog es sich straff. Sie hörte das pollernde Geräusch von Jonathans Stiefeln, die auf das Wellblech prallten, dann das weniger rhythmische Krachen eines Aufpralls. Beim Herunterblicken sah sie nur das Licht, das wild hin und her tänzelte, Nachflimmern auf ihrer Netzhaut hinterließ und nichts erhellte.
    Sie hörte Jonathan schreien. Das war kein Ruf um Hilfe. Das war schlimmer.
    Noch mehr Poltern und Planschen. An dem Seil hing immer noch ein Gewicht und teilte ihr seinen Aufstieg mit.
    Sollten alle anderen doch denken, was sie wollten. Warum sollte sie gerade heute damit anfangen, auf Anstand und Sitte Rücksicht zu nehmen?
    »Jonathan?« Mittlerweile wusste sowieso das ganze Gebäude über sie Bescheid. Sie lehnte sich noch weiter vor. Ihr Kopf und ihre Schultern hingen jetzt in dem stinkenden Schacht, während sie mit ihrer behandschuhten Hand nach dem Verlängerungskabel griff. Es war zu schwer für sie, aber sie versuchte es hochzuziehen, ihm bei seinem Aufstieg zu helfen.
    Unter ihr verschwand die Glühbirne, ein einsamer Stern in der Schwärze der Nacht, und machte schließlich dem Tod selbst Platz.
    »Jonathan! «
    Das Seil in ihrem Griff wurde schlaff. Sie konnte nicht wissen, dass das Geräusch, das sie als Nächstes hörte, Jonathans Gesicht war, wie er bei

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