Der Schaedelschmied
das Schriftstück auf. Obwohl er es bereits mehrmals gelesen hatte, ließ er seine Augen erneut über die handschriftlichen Zeilen gleiten, kleine schwarze Buchstaben von nachgerade maschineller Präzision und einheitlicher Größe:
Gütiger Herr und Lordprotektor,
nichts liegt mir ferner, als Ihre kostbare Zeit vergeuden zu wollen, jedoch verlangt mein Gewissen nach Erleichterung, bevor ich die Konsequenz aus meinem Tun ziehe und eine Phase meines Daseins beende, in deren Verlauf ich intolerantes Leid über zahllose Angehörige unseres Volkes gebracht habe. Der beständige Drang nach höheren Erträgen und reicheren Fördergründen hat mich zu einem Ungeheuer werden lassen, welches das Leben eines aufrechten Zwergenbruders nicht höher achtet als das eines Halgerlaks unter seiner Stiefelsohle. Dies kann so nicht weitergehen. Ich bete zu Thellw, dass Sie mich für meinen Entschluss nicht verdammen werden. Heil Hindrych!
»Wenn das kein Abschiedsbrief ist, will ich nicht länger der beste Kriminologe Nophelets sein«, konstatierte Glaxiko, der auf der Sitzgruppe unangenehm nahe an Hippolit herangerückt war, um von der Seite zu spicken. »Wie ihn jemand schreiben würde, der im Begriff steht, sich umzubringen.«
»Ja, ja. Quintessenziell.« Hippolit ließ den Brief sinken. »Vorausgesetzt …«
»Vorausgesetzt was?«, erkundigte sich Oskulapius lauernd.
»Vorausgesetzt, diese Worte stammen tatsächlich von Schürfminister Borkudd. Wie Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit nicht entgangen sein dürfte, ist das Schreiben nicht signiert.«
»Es lag auf Borkudds Schreibtisch«, wandte Glaxiko ein.
»Dort lagen Unmengen von Dokumenten. Rund die Hälfte davon stammte von anderer Hand als der des Ministers.« Hippolit legte das Papier zurück auf den Tisch.
»Es ist seine Schrift«, behauptete Oskulapius.
»Ist sie das?«
Wie aufs Stichwort klopfte es an die Labortür. Das Gesicht des Ermittlers aus Sherlepp hellte sich auf. Voller Elan federte er vom Sofa hoch. »Herein!«
Die Tür schwang auf, und der stämmige Umriss Meister Rektens erschien in der Öffnung, ein Bündel Papiere unter dem Arm.
»Und? Waren Sie erfolgreich, Rekten?«
»Ich denke schon.« Lächelnd trat Rekten ein.
»Ich habe Meister Rekten mit einem Duplikat dieses Schreibens zu Herrn Hellmuth geschickt«, erklärte Oskulapius. »Borkudds Sekretär.«
»Ein Duplikat?«, wiederholte Hippolit.
»Ein Duplizierer dritter Stufe erwies sich als ausreichend«, erklärte Rekten im Näherkommen. Sein rundes Mondgesicht strahlte vor Stolz – dem Stolz des unterschätzten Thaumaturgen, der endlich mit seinen Fähigkeiten glänzen darf. »Sie waren so sehr in Ihre Untersuchung der Tatwaffe vertieft, dass Sie vermutlich gar nichts davon mitbekamen …«
Hippolit winkte ab. Der Duplizierer war ein simples Sprüchlein, das in Nophelet jeder Novize der zweiten Stufe beherrschte. Auf ein beliebiges, im Idealfall mit Tinte geschriebenes Dokument angewendet, verwandelte er die betreffende Handschrift für mehrere Augenblicke in ein säuregleich ätzendes Muster. Presste man während dieser Phase ein zweites, leeres Blatt Papier auf das erste, fraß sich die Schrift in das neue Dokument, wodurch man eine zwar spiegelverkehrte, dafür aber höchst präzise Kopie des Originals erhielt. »Und anhand dieses Duplikats baten Sie Herrn Hellmuth, einen Schriftvergleich mit Originaldokumenten des Ministers vorzunehmen, vermute ich?«
Rekten nickte und breitete das Bündel Dokumente vor sich aus. Viele davon trugen amtlich wirkende Stempel oder Siegel, auf allen war dieselbe akkurate Handschrift aus eckigen, nahezu identisch großen Buchstaben zu erkennen. »Herr Hellmuth empfand die Aufgabe als überaus einfach«, berichtete er. »Eine Handschrift, so exakt und gleichmäßig wie die seines ehemaligen Vorgesetzten, sagte er, gebe es in Barlyn kein zweites Mal. Er war sich daher absolut sicher, den Verfasser unseres Abschiedsbriefes identifizieren zu können: Niemand anders als Schürfminister Borkudd hat ihn geschrieben.«
8
Die Arbeit in der ewigen Nacht verhieß Finsternis. Beständige, fast körperlich spürbare Finsternis, Enge und Hoffnungslosigkeit.
Und Schmerzen.
An jenem Tag, da Bruder zweiter Ordnung Frantz seinen Verstand verlor, war bereits vom frühen Morgen an alles schiefgelaufen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Frantz verschlafen. Wahrscheinlich lag es an der gnadenlosen Sechserschicht, die er seit über einem Jahr schieben musste.
Die
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