Der Schaedelschmied
Lichts. Er vermisste die Sonne.
Jorges ursprüngliche Planung hatte vorgesehen, den freien Abend im Bett zu verbringen. Er konnte ohnehin nirgendwohin gehen, ohne sich den Schädel zu stoßen, warum sollte er seine Freizeit da nicht verschlafen?
Dummerweise fühlte er sich überhaupt nicht müde. Außerdem gab es in der Pension nichts zu trinken. Wasser wohl, aber eben nichts zu trinken. Also hatte er sich, kurz nachdem M.H. zu seiner Verabredung mit dem Vizeminister abgedampft war, wieder erhoben, war nach draußen gestiefelt und ziellos durch die unterirdischen Straßen Barlyns gezogen, auf der Suche nach einer Schenke oder etwas Ähnlichem. Für einen mit diversen Sonderbefugnissen ausgestatteten Agenten des IAIT, das hatte ihn die Erfahrung gelehrt, war es immer von Vorteil, sich unter das gemeine Volk zu mischen.
Nachdem er mehrere Wohngebiete durchquert hatte, ohne auch nur ein einziges Geschäft oder gar eine Gaststätte ausmachen zu können, kam ihm ein Zwerg von unschätzbarem Alter entgegen, eine Schiebermütze auf dem Kopf, eine knallrote Nase im Gesicht. Offenbar hatte der Kerl ordentlich einen im Tee, sein Gang war wankend, und er sang unausgesetzt eine leiernde Weise vor sich hin, die Jorge, ausgewiesener Fachmann für Trinklieder, noch nie gehört hatte. Er verstand lediglich die Worte »Was trägt mein Herz so schwer am Borkenbolt …?« Jorge hatte keine Ahnung, was ein Borkenbolt war und wieso ein Herz schwer daran zu tragen haben sollte. Aber bei genauerer Betrachtung interessierte es ihn auch nicht weiter.
Als der Zwerg etwa auf seiner Höhe war, stolperte er, prallte gegen Jorges breite Brust, schaute zu ihm hoch, verdrehte die Augen, grinste und hauchte ihm seinen sauren, alkoholgeschwängerten Atem ins Gesicht. »Bei Thellw, was sind denn Sie?«, lallte er. »Ein Vieh?«
Jorge packte den Zwerg mit seiner künstlichen Hand an der Schulter und half ihm, sein Gleichgewicht wiederzuerlangen. »Auch, aber nicht nur«, sagte er. »Sag mal, du Wicht, woher kommst du? Ich bin auf der Suche nach einem geselligen Örtchen und etwas Alkohol. Viel Alkohol. So, wie du aussiehst …«
»Sie sehen, dass ich voll bin wie ein Schoppen Rotz, und fragen mich, wo ich herkomme? Wo leben Sie denn? Was glauben Sie, woher ich wohl komme?« Der Zwerg zwinkerte konspirativ, beugte sich vornüber und kotzte Jorge direkt vor die Füße. Unauffällig trat Jorge einen Schritt zurück.
Nachdem der Zwerg seinen Magen entleert hatte, versuchte er abermals, Jorge mit Blicken zu fixieren. Er starrte ihn an, als nähme er ihn zum ersten Mal bewusst wahr. Gelbliches Erbrochenes klebte in seinem Bart. »Heil Hindrych«, nuschelte er und wischte sich über den Mund. »Wer, bei Thellw, sind Sie denn?«
»Ich bins nur«, sagte Jorge. »Das Vieh. Aber du wolltest mir gerade eine Frage beantworten.«
»W-wollte ich?«
»Bei uns Trollen gibt es ein altes Sprichwort, und das geht so: Natürlich wolltest du das! Jetzt sag schon, woher kommst du?
Du scheinst den unterschiedlichsten verstandesverwirrenden Genüssen gefrönt zu haben, wenn ich mir das halbverdaute Resultat deiner Abendgestaltung so ansehe. Und weißt du was? Ich möchte daran teilhaben! Nicht an deinem Gewölle, nein, nein, aber an den unwiderstehlichen Köstlichkeiten, die dich in ihrer Summe zu dieser Sauerei veranlasst haben.«
Der Zwerg grinste wirr und nickte mit dem Kopf in die Richtung, aus der er gekommen war. »Woher werde ich schon kommen? Aus der Sechsten natürlich, vom Schwelgermarkt! Du willst doch nicht behaupten, du hättest noch nie vom Schwelgermarkt gehört?«
Jorge schüttelte den Kopf. »Selbstverständlich weiß ich sogar ziemlich genau, was der Schwelgermarkt ist. In diese Richtung, sagst du? Sechstes Stockwerk?«
Der Zwerg nickte, grinste, rülpste.
»Bei Batardos«, hauchte Jorge wenig später. Er spürte, wie sich ein Grinsen auf seinem unrasierten, stoppeligen Gesicht ausbreitete.
Er war der Wegbeschreibung des Betrunkenen gefolgt, bis er einen der unvermeidlichen Aufzüge erreicht hatte. Der Umstand, dass dieser, im Gegensatz zu den kruden Gitterkästen in den Minentrakten, deutlich geräumiger und innen mit Holz ausgekleidet war, er sich die Kabine zudem mit keinerlei weiteren Insassen teilen musste, half, seinen Widerwillen zu überwinden. Außerdem ging es diesmal nicht in die Tiefe, sondern aufwärts, und das war gut.
Er entstieg der Vorrichtung in der Sechsten, ohne einen erneuten Anfall von Platzangst oder gar Atemnot
Weitere Kostenlose Bücher