Der Schaedelschmied
ihm M.H. am Vortag überlassen hatte.
»Hier.« Jorge lehnte sich nach vorne und streckte seine künstliche Hand aus. »Du kannst es dir ansehen, Gronther, wenn du glaubst, dass du dich dann besser fühlst.«
Gronther hörte auf, Namenloshinter den Ohren zu streicheln. Nach kurzem Zögern ergriff er die Fothaumatographie des Ermordeten. Seine Finger zitterten leicht, seine matten Augen nahmen einen fanatischen Glanz an.
Einen Moment lang herrschte Schweigen. Dann sagte Gronther sehr langsam: »Was … wer ist das?«
»Na, dein Vetter, wer sonst? Du hast ihn seit Jahren nicht gesehen. Hast selbst gesagt, du wüsstest nicht genau, wie er mittlerweile eigentlich aussieht und …«
»Nein!« Gronther schüttelte energisch den Kopf. »Ich meine … wohl, vielleicht würde ich ihn gleich nicht auf Anhieb wiedererkennen, aber …«
»Natürlich ist sein Gesicht entstellt. Macht schließlich keinen Spaß, auf so eine Weise zu sterben.«
Gronther sah auf. Er wirkte plötzlich uralt, eine aufrecht sitzende Zwergenleiche.
Er sagte: »Ich weiß, wie meine Worte lauteten, Herr Jorge.«
Er sagte: »Aber ich bin kein Idiot, falls Sie das glauben sollten.«
Er sagte: »Das auf diesem Bild …«
Er sagte, während Jorges Gedanken wild durcheinanderzuwirbeln begannen: »… ist mit Sicherheit nicht mein Vetter Borkudd!«
18
Das Barlyner Staatsarchiv war in der Neunten untergebracht. Hippolit fand es ohne Probleme, obwohl er diesmal auf Wymmler als Führer verzichten musste. Wie er widerstrebend zugeben musste, war das Barlyner Verkehrsleitsystem mit seinen Hauptverkehrsachsen und Aufzugschächten konsequent logisch aufgebaut; wenn man sich nach den ausführlich beschrifteten Plänen an den Knotenpunkten richtete, bekam man selbst als Ortsfremder kaum Probleme.
Nach knapp zehnminütigem Fußmarsch erreichte er eine Kolonnade, deren nacktes Steindach von unzähligen aus dem Fels gehauenen Säulen getragen wurde. An ihrem Ende lag ein großes Tor. Eine eingemeißelte Inschrift verkündete, dass er am Ziel war.
Die Absicht, im Archiv der Stadt einige Fakten zu recherchieren, hegte er bereits, seit Jorge ihm von den eigenartigen Vorgängen in der Vierunddreißigsten berichtet hatte. Die Beschreibung der Kreatur, die er und Glaxiko dort gesehen haben wollten, vor allem aber die Art ihrer Fortbewegung hatte ihn auf einen Gedanken gebracht, der dringend der Überprüfung bedurfte. Auf dem Rückweg von dem unerquicklichen Intermezzo bei Lordprotektor Hindrych hatte er sich daher von Wymmler den Weg beschreiben lassen und sich auf denselben gemacht.
Hippolit drückte die Tür auf, durchquerte einen menschenleeren Vorraum und gelangte in einen weitläufigen Lesesaal. Eichene Holztische standen in langen Reihen nebeneinander, die Wände wurden bis unter die für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich hohe Decke von in den Fels gehauenen Bücherregalen eingenommen. Im Raum verteilt saß eine Handvoll Zwerge, allesamt Greise mit weißgrauen Barten und absurd dicken Augengläsern, die Nasen in halbvermoderte Leinenbände und bröselige, ledergebundene Kompendien gesteckt. Die Luft war erfüllt vom Duft nach Staub, brüchigem Papier und Mundgeruch.
Ganz in der Nähe machte er eine plumpe Gestalt in einer offiziell anmutenden, hellgrauen Montur aus. Sie war damit beschäftigt, einen beachtlichen Haufen Bücher, der über mehrere Lesepulte verstreut lag, auf einem rollbaren Wägelchen zu verstauen.
»Entschuldigen Sie, guter …« Weiter kam Hippolit nicht, denn in diesem Moment drehte der Graugekleidete sich um.
Es handelte sich um einen Angehörigen der Zwergenrasse, so viel war klar. Doch selbst dafür wirkte die Gestalt ungewöhnlich gedrungen, ihr rhombenförmiger Körper schien überall gleich breit zu sein. Der Schädel war blitzblank, neben Haupthaar fehlten auch Brauen und Wimpern, möglicherweise als Folge einer seltenen Krankheit. Das Gesicht war rosig und aufgedunsen, die Bügel der unvermeidlichen Augengläser schnitten tief in das wulstige Fleisch oberhalb der fetten Wangen. Die Sehhilfe selbst bestand nicht aus einem einzelnen Paar Gläser, vielmehr handelte es sich um eine komplizierte Apparatur, bei der durch winzige Hebel ein halbes Dutzend unterschiedlich geschliffener Linsen hintereinandergeklappt werden konnten, vermutlich, um ihre verschiedenen Brennweiten zu kombinieren. Momentan waren sie so justiert, dass die Augen des Trägers ins Irreale vergrößert wurden, zwei dicke blaue Fische in winzigen Tanks
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