Der Schaedelschmied
musste, dass er in seinem Leben noch nie ein Buch von vorn bis hinten durchgelesen hatte. »Ein altes Trollsprichwort sagt: Wenn du liest, machst du dich verdächtig.«
»Genau so war es!« Zum ersten Mal hob Gronther die Stimme.
»Ein gutes Sprichwort. Ich habe auch eins, ein altes zwergisches: Wenn du dich dem stellst, was in dir ist, kann es dich erretten; stellst du dich ihm nicht, wird es dich zerstören.«
»Nicht schlecht«, bestätigte Jorge. »Das werde ich mir merken.« Er sah zu Namenlos, die soeben wieder den Raum betrat. »Aber erklär mir das ruhig ein wenig genauer, Gronther. Wie muss ich mir das mit deiner Familie vorstellen? Warum hattest du den Kontakt zu deinen Leuten abgebrochen?«
»Weil sie rücksichtslose Ausbeuter waren! Alle, durch die Bank. Wofür sich die Angehörigen meiner Familie interessierten? Für ihren Reichtum, für ihre Karrieren und für ihre verfluchte Reputation. Egomanen, wie sie im Buche stehen. Gestörte Zwerge, im Leben aber so erfolgreich, dass es nicht weiter auffiel. Erfolg rechtfertigt alles, egal, wie man ihn errungen hat.«
»Da sagst du was, Gronther. Genauso sehe ich das auch. Ehrlich.«
»Borkudd war am schlimmsten. Ein Despot! Ich glaube, wir haben uns von Anfang an gehasst. Eine Weile habe ich unter ihm gearbeitet. Eine monotone Verwaltungsaufgabe, von meinem gnädigen Vetter für mich organisiert. Damit ein Zwerg aus seiner Familie nicht erwerbslos werden musste, Sie verstehen?«
»Aber das war wohl kaum dein Traumberuf, so wie du dich anhörst.«
Gronther verzog das Gesicht. »Später arbeitete ich in der Barlyner Staatsbibliothek. Ein großartiger Bestand, Sie sollten ihn sehen. Ich habe dabei geholfen, ihn zusammenzutragen. Aber der alte Borkudd zürnte mir, weil ich es gewagt hatte, seinen generösen Verwaltungsposten zu kündigen. Weil ich es wagte zu tun, was mein Herz mir riet! Bücher hasste er ohnehin, daher machte er seinen Einfluss geltend und bewirkte, dass der Bibliothek noch im selben Zenit sämtliche Zuschüsse gestrichen wurden. Alles nur, um mich zu quälen.«
Jorge nickte. »Ein Arschloch demnach, ich verstehe.«
»So kann man es ausdrücken.«
Namenlos sprang auf Gronthers Schoß, wahrscheinlich, weil sie eine Kopfmassage für angebracht hielt. Gronther beugte sich dem Wunsch ohne Protest.
»Wussten Sie, dass meine Frau Wyndheide und mein Sohn Dietrych bei einem Gegyren-Unfall ums Leben gekommen sind? Es ist nicht einmal lange her.«
»Das tut mir leid, Gronther. Muss schlimm für dich gewesen sein.«
»Das Einzige, was Borkudd dazu zu sagen hatte, war: ›Um die beiden ist es nicht schade.‹ Sie seien faul gewesen, arbeitsscheu, hätten zwergische Werte nicht geachtet.« Gronther seufzte. »Als Witwer stünde mir eine Hinterbliebenenrente zu, wissen Sie? Aber bislang kämpfe ich vergeblich mit den Behörden. Vetter Borkudd wusste, an welchen Strippen er ziehen musste.«
Jorge schlug die Beine übereinander. »Ich möchte dir nicht zu nahe treten, Gronther, aber du hast mir da gerade einen ganzen Batzen an Informationen geliefert, die dich …«
»… die mich unter Umständen verdächtig machen, ich weiß.« Der Zwerg griff in eine Brusttasche seines Hausanzugs, fischte eine dünne, geknickte Zigarre hervor, entzündete sie an einer Kerze, förderte eine zweite zutage und bot sie Jorge an. Sie rauchten. Der Qualm schien sich in der Luft kaum zu bewegen. Namenlos schnurrte auf Gronthers Schoss. »Aber ich habe Borkudd nicht getötet. Bei Thellw, ich hätte nicht einmal mehr genau gewusst, wie er mittlerweile aussieht.«
»Sagtest du nicht, du habest erst kürzlich mit ihm gesprochen? Nachdem deine Frau und dein Sohn – noch mal mein aufrichtiges Beileid – bei dem Unfall mit der Schienenbahn ums Leben gekommen waren?«
»Ein Wortwurf, von einer öffentlichen Rufsäule aus. Nichts weiter. So war er, mein feiner Vetter.« Er blies Rauch aus und blickte ins Leere. »Ich habe es in der Grubenlampe gelesen, Herr Jorge. Borkudds beschissener Schädel war voller Nägel.«
»Ja, er …«
»Das hätte ich zu gern gesehen!« Gronthers Stimme klang mit einem Mal kalt und grausam. »Der verdammte Drecksack -genagelt. Was hätte ich darum gegeben!«
Jorge erschrak ein wenig vor sich selber, als er feststellte, dass er die Verbitterung Gronthers nicht nur verstehen konnte, sondern sie am liebsten noch weiter genährt hätte. Da fiel ihm etwas ein. Er griff in eine Brusttasche seiner Kluft und fischte die Fothaum-Aufnahme hervor, die
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