Der Schaedelschmied
wässriger Feuchte.
Hippolit stellte konsterniert fest, dass er außerstande war, das Geschlecht des Zwergs zu bestimmen.
»Ja, bitte? Oh, ich sehe, Sie bestaunen meine Multigläser?«
Auch die Stimme seines Gegenübers, hoch und zugleich volltönend, ließ keinerlei Rückschluss zu, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte. »Eine Eigenentwicklung. Sie hilft mir, die unterschiedliche Fehlsichtigkeit meiner Augen auszugleichen.« Mit den Fingerspitzen ließ der Zwerg auf jeder Seite eine Linse beiseiteschnappen, worauf seine Augen eine normalere Größe annahmen. »Im Alltag, beim Blick in die Ferne, aber vor allem hier, an meinem Arbeitsplatz, beim Entziffern selbst kleinster Typen und hoffnungslos verschnörkelter Runen.« Er streckte Hippolit eine dicke Hand hin und lächelte. »Ich bin Magister Krasten, der Leiter dieser Einrichtung.«
Dankbar für die Klärung der Geschlechtszugehörigkeit schüttelte Hippolit dem Archivar die Hand und stellte sich vor. »Ich würde gerne Einblick in einen bestimmten Teilbereich Ihrer Bestände nehmen«, erklärte er. »Gewiss haben Sie eine Abteilung für technische Fachliteratur? Mich interessieren vornehmlich Titel, die sich mit den zeitgenössischen Entwicklungen zwergischer Feinmechanik beschäftigen.«
Krastens Hals, exakt so dick wie der daraufsitzende Kopf, legte sich abwechselnd vorne und hinten in Falten. Der Zwerg nickte. »Natürlich verfügen wir über Werke zu diesem Themenkomplex. Eine reiche Sammlung, wie ich hinzufügen darf.«
Hippolit zögerte, musterte die Bücherregale an den Wänden. »Wie funktioniert das hier? Ich nehme kaum an, dass es sich bei den Werken in diesem Raum um ihre kompletten Bestände handelt?«
Der Archivar legte den Kopf in den Nacken und stieß ein helles Lachen aus. Für einen kurzen Moment fragte sich Hippolit, ob es sich bei »Krasten« tatsächlich um einen männlichen Vornamen handelte.
»Was Sie hier sehen, ist lediglich der frei zugängliche Handapparat«, erklärte der Zwerg und wischte sich eine Lachträne unter seiner Sehhilfe fort. »Er macht nur einen winzigen Bruchteil unseres Magazins aus. Das eigentliche Archiv befindet sich tief unter uns, in Hallen in der Sechzehnten und Siebzehnten. Hat ein Nutzer den Katalog durchforstet und sich für einen oder mehrere Titel entschieden, gebe ich per Rohrpost die Bestellung auf, und innerhalb kürzester Zeit schicken meine Kollegen das Gewünschte über einen Versorgungsaufzug von unten herauf. Ich will Ihnen gerne die Karteikästen zeigen, die für Ihre Suche relevant sind. Zuvor muss ich hier allerdings noch die Unordnung beseitigen, die einer Ihrer Kollegen hinterlassen hat.« Krasten deutete seufzend auf das Bücherschlachtfeld neben sich.
»Einer meiner Kollegen?«
»Ein kriminologischer Ermittler wie Sie.« Der Zwerg blinzelte Hippolit hinter seinen mehrlagigen Augengläsern verschmitzt zu. »Keine Sorge, ich weiß Bescheid: In der Grubenlampe stand alles über Lordprotektor Hindrychs Aufruf zu lesen. Nahezu jeder Zwerg weiß, warum sich gegenwärtig vier Menschen und ein Troll in Barlyn aufhalten.«
Hippolit runzelte die Stirn. Oskulapius und Rekten hatten Barlyn bereits verlassen, er selbst hatte den Ermittler aus Sherlepp vor einer halben Stunde unter huldvollem Winken in einen Aufzug zur Erdoberfläche steigen sehen. Folglich konnte der Archivar nur General Glaxiko meinen. Der Gedanke, der Leiter der Stadtwache von Nophelet könnte freiwillig ein Buch aufgeschlagen oder gar darin gelesen haben, war nachgerade grotesk. Umso interessierter trat Hippolit an den Tisch und beäugte die Werke, die dort über- und untereinander lagen.
Bei einem Teil der Bände schien es sich um Nachschlagewerke über Zoologie und Biologie zu handeln. Hippolit sah Lebensformen in Natur und Labor aus der Feder des bekannten Tierforschers Florack, Von denen Monstrositäten und Nachtmahren von Professor Thunevin, einem Wissenschaftler, der zu Beginn des Zweiten Zyklus in Nophelet geforscht hatte, sowie das seinerzeit viel beachtete Kreaturium des Grafen Mabaruk. Einige der Bände waren noch aufgeschlagen – wie Hippolit feststellte, allesamt an Stellen mit Zeichnungen oder fothaumatographischen Aufnahmen bestimmter Tiere. Einzelne ihrer physiognomischen Komponenten erinnerten an Jorges Beschreibung der geheimnisvollen Entität aus der Tiefe: schleimige Springlurche, warzige Tatzeleber, ein auf muskulösen Springbeinen kauernder Wolker. Aber keines der Tiere kam in seiner Gesamtheit
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