Der Schakal
einschlägiger Werke über seinen Gegenstand. Daraufhin bestellte er unter Angabe eines falschen Namens und einer Deckadresse in der Praed Street in Paddington bei einer Reihe bekannter Buchläden die wichtigsten Titel, die ihm innerhalb weniger Tage dorthin mit der Post zugestellt wurden. Während er allnächtlich in seiner Wohnung bis in die frühen Morgenstunden kreuz und quer und diagonal in ihnen las, begann sich in seiner Vorstellung ein ungemein detailliertes Bild vom Bewohner des Elysée Palastes zu formen, das von dessen Kindheit bis zur unmittelbaren Gegenwart reichte. Von den Informationen, die er auf diese Weise sammelte, war vieles von keinerlei praktischem Nutzen, aber hier und da wurde eine Angewohnheit oder eine Eigenart deutlich, die er sich in einem kleinen Schulheft notierte. Besonders aufschlußreich für den Charakter des französischen Staatspräsidenten war der dritte Band seiner Memoiren, in welchem Charles de Gaulle auf seine persönliche Einstellung zum Leben, zu seinem Land und seinem Schicksal, wie er es auffaßte, näher einging. Der Schakal war weder ein langsamer noch ein dummer Mann. Er las gierig, plante sorgfältig und besaß die Fähigkeit, Informationen auf die bloße Möglichkeit hin, daß sie ihm später einmal von Nutzen sein könnten, in enormer Menge im Gedächtnis zu speichern.
Aber wenngleich ihm die Lektüre der Werke von und über Charles de Gaulle ein nahezu vollständiges Bild vom stolzen, hochfahrenden Wesen des französischen Staatspräsidenten vermittelte, vermochte sie ihn doch der Lösung des zentralen Problems, das ihn ständig beschäftigte, seit er am 15. Juni in Rodins Wiener Pensionszimmer den Mordauftrag angenommen hatte, um keinen Schritt näher zu bringen. Am Ende der ersten Juliwoche hatte er auf die Frage, wann, von wo aus und wie der tödliche Schuß abgegeben werden sollte, noch immer keine Antwort gefunden.
Schließlich suchte er den Lesesaal des Britischen Museums auf, und nachdem er einen Antrag auf Benutzung der Bibliothek zu wissenschaftlichen Zwecken wie üblich mit seinem falschen Namen unterschrieben hatte, begann er sich durch die alten Jahrgänge der führenden französischen Tageszeitung »Le Figaro« hindurchzuarbeiten.
Wann genau er auf die Lösung kam, ist nicht bekannt. Aber die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß es an einem der drei auf den 7. Juli folgenden Tage geschah. Innerhalb dieser drei Tage war der Mörder, ausgehend von dem Keim einer Idee, die von einem 1962 geschriebenen Leitartikel herrührte, und daraufhin die betreffenden Nummern der alle Amtsjahre de Gaulles seit 1945 umfassenden Archivexemplare überprüfend, auf die Lösung seines Problems gestoßen. In diesem Zeitraum wurde ihm klar, an welchem Tag sich Charles de Gaulle weder durch Krankheit oder von schlechtem Wetter noch auch durch seine persönliche Sicherheit betreffende Überlegungen davon abhalten lassen würde, sich erhobenen Hauptes der Öffentlichkeit zu zeigen. Von diesem Augenblick an traten die Vorbereitungen des Schakals aus der Forschungs und Erkundungsphase in die der praktischen Planung.
Unzählige Stunden des Nachdenkens vergingen, in denen er, unablässig die gewohnten King-Size-Filterzigaretten rauchend, in seiner Wohnung auf dem Sofa lag und zur cremefarben gestrichenen Zimmerdecke hinaufstarrte, bevor auch die letzte Einzelheit in den Gesamtplan eingefügt werden konnte.
Nicht weniger als ein Dutzend Ideen war von ihm erwogen und verworfen worden, bis der Plan, den er dann befolgen sollte, seine endgültige Form fand und damit dem »Wann« und »Wo«, über die er bereits entschieden hatte, das fehlende »Wie« hinzugefügt wurde.
Der Schakal vergaß keinen Augenblick, daß Charles de Gaulle im Jahre 1963 nicht nur der Präsident Frankreichs, sondern auch der bestbeschützte und schärfstbewachte Mann der westlichen Welt war. Ihn umzubringen war, wie sich später erwies, wesentlich schwieriger, als Präsident John F. Kennedy zu ermorden. Dabei wußte der Schakal nicht einmal, daß französische Sicherheitsexperten, denen die amerikanischen Behörden Gelegenheit dazu gegeben hatten, die zum persönlichen Schutz Präsident Kennedys getroffenen Sicherungsmaßnahmen zu studieren, mit einer ziemlich verächtlichen Meinung über eben diese vom amerikanischen Geheimdienst praktizierten Sicherungsmaßnahmen zurückgekehrt waren. Wie berechtigt die Ablehnung der amerikanischen Methoden durch die französischen Experten war, sollte sich im
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