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Der Schatten des Chamaeleons

Titel: Der Schatten des Chamaeleons Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minette Walters Mechtild Sandberg-Ciletti
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Verhalten. Ich habe Henry Watson gebeten, die CT noch einmal auf eine Schädigung des Frontallappens zu prüfen. Er vertritt weiterhin die Meinung, dass eine solche nicht vorliegt, empfahl aber eine zweite Untersuchung mittels MRT. Er bestätigte meine Einschätzung, dass Charles’ Symptome für eine antisoziale Persönlichkeitsstörung nicht typisch sind, wollte sich aber nicht dazu äußern, ob eine Persönlichkeitsveränderung plötzlich eintritt oder sich mit der Zeit entwickelt.
     
    ... Er zeigte sich besorgt über Charles’ geringschätziges Verhalten anderen gegenüber, über sein fehlendes Mitgefühl und seine Unfähigkeit, emotionale Verbindungen aufzunehmen; weniger Sorge machte ihm seine Aggressivität - der Angriff auf die Mutter, das Fäusteballen etc. Dies bezeichnete er lediglich als »heißblütig«. [Typischerweise zeigen Soziopathen keine emotionale Entladung, wenn sie wütend sind, sondern planen ihre gewalttätigen Vergeltungsmaßnahmen leidenschaftslos und »kaltblütig«.]
     
    ... Vergeltung. Watson schlug mir vor, mit der Verlobten Kontakt aufzunehmen, um zu sehen, ob Charles versucht hat, sie zu erreichen...
    Lieber Dr. Willis,
     
    vielen Dank für Ihren Brief. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich Ihnen eine Mail schicke, aber ich dachte mir, das geht schneller. Ich möchte Ihre letzte Frage zuerst beantworten. Nein, Charlie hat sich seit seiner Abreise in den Irak nicht mehr bei mir gemeldet. Ich wüsste nicht einmal, dass er verwundet wurde, und hätte keine Ahnung, in welchem Krankenhaus er liegt, wenn seine Mutter nicht angerufen hätte. Dem, was sie sagte, entnahm ich, dass Charlie ihr von unserer Trennung nichts erzählt hatte. Na ja, es wundert mich nicht. Soviel ich weiß, erzählt er seinen Eltern nie etwas.
    Es hat mir wirklich sehr leidgetan, als ich von der ganzen Sache hörte. Und dass ich nichts davon erfahren sollte, ist für mich ganz besonders schlimm. Charlie muss doch wissen, dass er mir immer noch viel bedeutet. Wir waren immerhin ein Dreivierteljahr zusammen - die ersten zwei Monate haben wir uns hin und wieder gesehen, in den nächsten vier waren wir fest zusammen und von Juli letzten Jahres an verlobt. Ich habe ihm in den letzten Tagen mehrmals geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Und wenn ich im Krankenhaus anrufe, werde ich nicht zu ihm weiterverbunden.
    Ich dachte, es geht ihm vielleicht noch nicht gut genug, um mir zu schreiben oder mit mir zu sprechen, aber in Ihrem Brief steht, dass er schon wieder auf den Beinen ist und sich gut erholt. Seine Mutter hat erzählt, dass er an einer Amnesie leidet, und Ihrem Briefkopf entnehme ich, dass Sie Psychiater sind. Ist das richtig? Behandeln Sie ihn also wegen dieser Amnesie? Ich sollte vielleicht erwähnen, dass mein Telefon in letzter Zeit ein paar Mal geläutet hat, aber wenn ich abhebe, sagt keiner einen Ton, und die Nummer des Anrufers wird
auch nicht angezeigt. Ich dachte anfangs, es wäre jemand, der mich ärgern will, aber jetzt frage ich mich, ob es nicht vielleicht Charlie ist. Wenn ja, könnten Sie ihm ausrichten, dass ich gern mit ihm sprechen würde?
    Ich kann nicht glauben, dass er mich vergessen hat - das ist doch nicht möglich, oder? Ich meine, wir waren so eng miteinander. Ich weiß ja nicht, wie das bei Gedächtnisverlust ist, aber ich hoffe, Charlie hat vergessen, warum wir uns getrennt haben. Es war so ein lächerlicher Streit wegen nichts und wieder nichts, und wenn ich jetzt daran denke, tut es mir echt leid. Ich habe das Gefühl, dass der unbekannte Anrufer eigentlich mit mir sprechen will, sich jedoch nicht traut, wenn er meine Stimme hört. Glauben Sie, dass das Charlie ist?
    Sie schreiben, Sie könnten ihm besser helfen, wenn Sie mehr über mich und unsere Beziehung wüssten. Offensichtlich hat Charlie Ihnen nichts über uns erzählt. Wieso überrascht mich das nicht? (Sie haben es mit dem großen Schweiger zu tun. Charlie spricht nie über Dinge, die ihn betreffen, und daran ist seine Mutter schuld. Sie mischt sich in alles ein. Ich dachte, mich trifft der Schlag, als sie mich anrief. Ich bin ihr nur einmal begegnet, und sie konnte mich von Anfang an nicht ausstehen. (Zu große Konkurrenz, war Charlies Kommentar dazu.)
    Charlie ist ein Chamäleon. Er vermittelt unterschiedlichen Menschen unterschiedliche Bilder von sich. Bei seinen Kameraden ist er ein ganzer Kerl, bei mir ist er der Mann, den jede Frau sich wünscht. Bei seinen Eltern verschließt er sich und tut so, als wäre er

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