Der Schatten des Chamaeleons
der anderen denken.«
»Er fährt morgen für zwei Wochen nach London. Beruhigt Sie das ein wenig?«
»Nicht, wenn er wiederkommt. Die Schwester, die Ms. Morleys Tasche gebracht hat, sagte, Acland wäre kurz nach seiner Einlieferung auf seine Mutter losgegangen. Stimmt das?«
»Das war eine ganz andere Situation. Er hatte starke Schmerzen, und sie hat ihn ständig betüttelt. Als sie ihm übers Haar streichen wollte, hat er ihre Hand festgehalten.«
»Die Schwester hat außerdem erzählt, dass er zu fast allen vom Personal grob und unhöflich ist. Hört sich an wie eine tickende Zeitbombe, wenn Sie mich fragen. Hat er erklärt, warum er gegen Ms. Morley handgreiflich geworden ist?«
»Er hat sie mehrmals gebeten zu gehen, und sie hat es nicht getan. Sie beachtete auch seine Warnungen nicht, dass sie ihm nicht zu nahe kommen solle. Als sie schließlich sein Gesicht berühren wollte, hat er sich gewehrt.«
»Warum hat er nicht einfach geläutet?«
Willis zuckte mit den Schultern. »Er hätte die Klingel gar nicht erreichen können, wenn Ms. Morley sich zwischen ihm und dem Bett befand - jedenfalls nicht, ohne die verwundete Seite seines Gesichts zu zeigen.« Er schwieg einen Moment. »Er ist sich der Narben und ihrer Wirkung auf andere sehr bewusst. Sie hat wohl prompt zu schreien angefangen, als sie sie sah. Vielleicht hat das seine heftige Reaktion hervorgerufen.«
»Er hätte Abstand halten sollen.«
»Sie genauso«, meinte Willis. »Es gehören immer zwei dazu, Gareth. Und vergessen Sie nicht, sie ist zu ihm gekommen, nicht umgekehrt. Der Lieutenant hat getan, was er konnte, um sie
fernzuhalten.« Er schwieg einen Moment. »Hat sie etwas darüber gesagt, warum sie hergekommen ist?«
»Aus Freundschaft. Sie waren anscheinend mal verlobt, und sie wollte ihn wissen lassen, dass sie weiter für ihn da ist, auch wenn es mit der Beziehung nicht geklappt hat.« Wieder das säuerliche Lächeln. »Sie ist ganz schön durch den Wind. Der Pfleger, der sie gerettet hat, sagt, der Lieutenant hätte sie am Hals gepackt und gedrückt wie ein Irrer. Wissen Sie, ob er früher schon mal gewalttätig gegen sie war?«
»Haben Sie sie gefragt?«
»Sie gibt keine Auskunft - aber sie traut ihm offensichtlich nicht. Haben Sie was dagegen, wenn ich mal selbst mit ihm rede? Ist er geistig so weit fit, dass man ihn befragen kann?«
Willis nickte. »Sie werden nicht viel aus ihm herausbekommen. Ich vermute, er wird keinen Einspruch gegen Ms. Morleys Version des Vorfalls erheben. Er scheint überhaupt kein Interesse daran zu haben, sich zu rechtfertigen.«
»Wieso nicht?«
»Wenn ich das wüsste«, antwortete Willis aufrichtig. »Im Augenblick weiß ich nicht einmal, ob ich es mit posttraumatischen Schuldgefühlen wegen des Todes zweier Soldaten zu tun habe - oder etwas weit Tieferliegendem.«
»Zum Beispiel?«
»Mit einer fortschreitenden Persönlichkeitszerstörung.«
In Wirklichkeit hatte Jen Morley nicht so viel mit Uma Thurman gemeinsam wie auf ihrem Websitefoto, aber eine gewisse Ähnlichkeit war nicht zu leugnen. Sie hatte die gleichen weit auseinanderliegenden Augen in einem oval geschnittenen Gesicht und den gleichen kindlich unschuldigen Blick. Sie begrüßte Willis selbstbewusst und mit gewinnender Freundlichkeit. »Es tut mir leid, dass ich hier solche Unruhe gestiftet habe, Doktor, aber alle waren unglaublich nett -«, sie warf einen lächelnden Blick auf die Sekretärin, »- vor allem Ruth.«
Er schaute zu ihrem Handgelenk hinunter, als er ihre Hand losließ, aber es war vom langen Ärmel bedeckt. »Wie fühlen Sie sich?«, fragte er, während er um den Schreibtisch herum zu seinem Platz ging. »Sie sehen jedenfalls weit besser aus.«
»Ein wenig erschrocken noch«, gestand sie. Sie drehte sich seitlich in ihrem Sessel und kreuzte die Füße. »Aber was ist mit Charlie? Um ihn sorge ich mich mehr. Geht es ihm gut? Es tut mir so leid, was da passiert ist.«
Willis bemühte sich bewusst, sie mit neutralem Blick zu sehen, dennoch war sein erster Gedanke, dass sie ihn an Charles’ Mutter erinnerte. Andere Haarfarbe und eine Schönheit ganz anderen Typs, aber in ihrer Haltung und ihren Worten drückte sich das gleiche Bestreben aus, sich im besten Licht zu zeigen. Mrs. Acland hatte jedes Gespräch mit einer Frage nach Charles’ Befinden begonnen, um dann ohne Umschweife auf sich selbst zu sprechen zu kommen, und Willis war gespannt, ob Jen Morley das Gleiche tun würde.
Er nickte seiner Sekretärin zu, die
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