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Der Schatten des Folterers

Der Schatten des Folterers

Titel: Der Schatten des Folterers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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eine kleine Wasserpfütze gebildet hatte, gekrochen – denn stehen konnte er nicht. Dort fand ich ihn. Ich hatte Suppe, dunkles Brot und zwei Karaffen Wasser dabei. Er leerte eine Suppenschüssel, aber als ich ihm das Brot füttern wollte, stellte sich heraus, daß er es nicht genügend kauen und schlucken konnte; ich weichte es in der anderen Suppenschüssel auf und goß dann immer wieder Wasser nach, bis beide Karaffen geleert waren.
    Als ich auf meiner Pritsche in der Turmspitze lag, glaubte ich, sein Keuchen zu hören. Mehrmals setzte ich mich auf und lauschte; jedesmal verklang das Geräusch, nur um wiederzukehren, sobald ich eine Zeitlang geruht hatte. Vielleicht war es nur mein eigenes Herzklopfen. Wenn ich ihn ein, zwei Jahre früher gefunden hätte, wäre er wie ein Schatz für mich gewesen. Ich hätte Drotte und den übrigen davon erzählt, und er wäre für uns alle wie ein Schatz gewesen. Nun erkannte ich ihn als das, was er war – ein armes Tier – und konnte ihn dennoch nicht sterben lassen, weil das einen Vertrauensbruch mit etwas in mir selbst dargestellt hätte. Ich war seit so kurzer Zeit ein Mann (falls ich wirklich ein Mann war); die Vorstellung, ein Mann geworden zu sein, der sich so von dem Knaben, der ich gewesen war, unterschied, konnte ich nicht ertragen. An jeden Augenblick meiner Vergangenheit, an jeden Gedankensprung, Anblick und Traum konnte ich mich erinnern. Wie könnte ich diese Vergangenheit zerstören? Ich hielt die Hände hoch und versuchte, sie zu betrachten – ich wußte, daß an den Handrücken die Adern nun hervorgetreten waren. Wenn diese Adern hervortreten, dann ist man ein Mann.
    Im Traum ging ich abermals durch das vierte Geschoß und fand dort einen dicken Freund mit tropfenden Lefzen. Er sprach mit mir.
    Am nächsten Morgen brachte ich den Klienten wieder ihre Speisen und stahl Essen für meinen Hund, obschon ich hoffte, daß er tot wäre. Er war's nicht. Er hob die Schnauze und grinste mich scheinbar an, wobei sein Maul so breit wurde, daß ich den Eindruck hatte, gleich würde sein Kopf in zwei Hälften zerfallen, aber aufzustehen versuchte er nicht. Ich fütterte ihn und wollte gerade gehen, als mir ergreifend deutlich klar wurde, wie schlimm es um ihn bestellt war. Er war abhängig von mir.
    Von mir! Nach seiner Beurteilung war er ausgebildet worden, wie Wettläufer für das Rennen trainiert werden; stolz war er durchs Leben gewandelt; seine gewaltige Brust, die breit wie die eines Mannes war, hatten zwei Beine, kräftig wie Säulen, getragen. Nun lebte er wie ein Gespenst. Sogar sein Name war mit seinem Blut fortgespült worden.
    Wenn ich Zeit hatte, suchte ich den Bärenturm auf, um dort Freundschaften, die sich mir anboten, mit den Raubtierbändigern zu knüpfen. Diese haben eine eigene Zunft, und obwohl es sich um eine niedrigere Gilde als die unsrige handelt, besitzt sie viele wunderliche Überlieferungen. In nicht geringem Grade (das Ausmaß erstaunte mich) die gleichen Überlieferungen, in deren Mysterien ich natürlich nicht eindrang. Bei der Erhebung ihrer Meister steht der Anwärter unter einem Eisengitter, über das ein blutender Stier trampelt; in einem bestimmten Lebensabschnitt hält jeder Bruder Hochzeit mit einer Löwin oder Bärin und meidet fortan Menschenweiber.
    Was alles nur besagen soll, daß zwischen ihnen und den Tieren, die sie in die Gruben führen, Bande bestehen, die denen zwischen unseren Klienten und uns selbst sehr ähneln. Inzwischen bin ich viel weiter von unserem Turm fortgereist, aber ich habe stets festgestellt, daß das Muster unserer Zunft sich blind in den Gesellschaften eines jeden Handwerks wiederholt (ähnlich den sich wiederholenden Spiegeln von Vater Inire im Haus Absolut), so daß sie allesamt Folterer sind wie wir auch. Das Jagdwild steht zum Weidmann wie unsere Klienten zu uns; wie die Kundschaft zum Kaufmann; die Feinde der Republik zu den Soldaten; die Regierten zu den Regierenden; die Männer zu den Frauen. Alle lieben das, was sie zerstören.
    Eine Woche nachdem ich Triskele hinuntergeschafft hatte, fand ich nur die Fußspuren des hinkenden Hundes im Schlamm. Er war verschwunden, aber ich machte mich auf die Suche nach ihm, weil ich sicher davon ausgehen konnte, daß einer der Gesellen es mir gegenüber erwähnt hätte, falls ein Hund über die Rampe heraufgekommen wäre. Bald führte mich die Fährte zu einer schmalen Tür, hinter der sich eine Vielzahl stockfinsterer Korridore auftat, von denen ich bisher

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