Der Schatten des Horus
eigentlich alles reingestopft? Vier, fünf, sechs Hosen kamen zum Vorschein, aber nur ein einziges T-Shirt. Verdutzt kramte er auch On the road von Jack Kerouac hervor, das Buch, das ihm in M r Wallace’ Lieblingsantiquariat geradezu in die Hände gesprungen war. Sid versuchte darin zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Er sah seinen Englischlehrer zum Greifen nahe vor sich, den geradlinigen Mann mit dem gewaltigen Walrossschnurrbart und den unmodernen braunen Cordanzügen. In seinen Seminaren hatte Sid so verdammt viel über die Menschen und ihre Gefühle gelernt. Seinen Schülern trug Wallace Gedichte und Kurzgeschichten mit einer solchen Inbrunst und Begeisterung vor, dass selbst die Allercoolsten an seinen Lippen klebten und sich niemand über öde Lyrik beschwerte. Sein Literaturseminar in den letzten Sommerferien, das Sid besucht hatte, hatte ihn mit Dichtern wie Dylan Thomas bekannt gemacht, und mit den Beat-Poeten wie Jack Kerouac, Allen Ginsberg oder William Burroughs. Wallace war der beste Lehrer, den Sid je gehabt hatte.
Vielleicht noch mehr als das!, durchzuckte es Sid. Vielleicht war er der Vater, den ich immer gesucht und in Robert nicht gefunden habe. Ihm fiel wieder ein, was William Wallace über Freiheit gesagt hatte, die die Beat-Poeten so propagiert hatten: »Freiheit heißt auch, den Kampf aufzunehmen, gegen jeden, der sie uns wieder nehmen möchte!« Sid ballte die Fäuste. Monate-, jahrelang hatte er die Freiheit gesucht und sich gegen seine Eltern aufgelehnt, die kleinen Freiräume in ihrem langweiligen Tagesablauf ausgenutzt. Nun war die Freiheit zu ihm gekommen. Er beschloss, den Kampf gegen den Seth-Kult aufzunehmen.
Mit frischer Kraft setzte er sich an den Tisch und zog ein Blatt Papier aus seinem Rucksack. Irgendein Kaufvertrag, aber die Rückseite war unbedruckt.
»Zeige mir, wie viel von mir in dir ist«, bat er sein fremdes Herz. Wie in Trance begann er augenblicklich zu schreiben. Buchstabe um Buchstabe floss aus seiner Hand, wie durch einen Schleier sah er Satz um Satz wachsen, ohne zu begreifen, was er da tat. Als nichts mehr kam, fiel sein Kopf auf die Tischplatte.
Rascals Lippen auf seiner Wange weckten ihn. Sid schreckte hoch.
»Das ist wunderschön!«, flüsterte sie und biss zärtlich in sein Ohr. »So etwas Schönes hat schon lang e … hat noch nie einer für mich geschrieben.« Sie räusperte sich und begann zu lesen.
Du gehörst zu mir.
Seit die Sonne aufgeht.
Seit der Mond über den Himmel jagt.
Seit die Gezeiten das Weltenmeer anschwellen
und sinken lassen,
gehörst du zu mir.
Unsere Herzen schlagen im gleichen Takt.
Seit die Sonne aufgeht.
Seit der Mond über den Himmel jagt.
Seit die Sterne die Nacht erleuchten,
schlagen unsere Herzen im gleichen Takt.
Du bist für mich bestimmt.
Seit die Sonne aufgeht.
Seit der Mond über den Himmel jagt.
Seit die Gezeiten das Weltenmeer anschwellen
und sinken lassen,
bist du bestimmt für mich.
Wenn die Sonne aufgeht.
Wenn der Mond über den Himmel jagt.
Wenn die Gezeiten das Weltenmeer anschwellen
und sinken lassen,
schlägt mein Herz in deiner Brust.
Rascal zeigte ihre perfekten Zähne beim Lachen. »Am besten gefällt mir die Ironie, die sich wie eine Rosenhecke um die Worte schlingt. Sie zeigt mir, dass du dich verändert hast. Du willst dich nicht mehr umbringen, stimmt’s?«
»Nein«, erwiderte Sid zögernd. »Egal was mir Monsieur Faux morgen sagen wird, es kann mich nicht mehr schocken, als das, was ich schon weiß. Sie wollen mich in ein Monster verwandeln, aber ich werde mich wehren!« Er starrte auf das vermeintliche Liebesgedicht. Er verstand die Botschaft des Dämons. Dass er diesen Kampf gewinnen konnte, bezweifelte er stark.
Rascal drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und zog sich ein kaftanartiges, knöchellanges Kleid über. An einen breiten Gürtel hängte sie eine Ledertasche, wie die Army sie benutzte.
»Im Lonely Planet steht, dass brave Kleidung einen halbwegs vor Belästigungen schützt«, erklärte sie. »Wir sind hier Gäste und ich bin gewillt, mich an die Sitten des Landes zu halten.« Sie ging zur Tür. »Und jetzt besorge ich uns etwas zu essen. Die Frühstückszeit ist sicher längst vorbei.« Mit einem umwerfenden Lächeln verschwand sie aus dem Zimmer.
Sid raffte sich von seinem Stuhl auf. Sein Nacken schmerzte, und die Schnitte, die die Krallen hinterlassen hatten, brannten wie Feuer. Er ging zu dem Waschraum im Gang. Die lange Reihe von Waschbecken an der Wand starrte vor
Weitere Kostenlose Bücher