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Der Schatten des Horus

Der Schatten des Horus

Titel: Der Schatten des Horus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo P. Lassak
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Komplett verhüllt trat er wieder auf den Gang. Zufrieden stellte er fest, dass niemand Notiz von dem hellhäutigen ägyptischen Arzt nahm. Mit dem Besucheraufzug rumpelte er in den vierten Stock. Seine Finger tasteten nach dem Flakon mit dem Löwenkopf. Alle seine Nerven waren angespannt. Jetzt kam die gefährlichste Phase. Wenn ihn eine Schwester oder ein »Kollege« anquatschten, würde die Formel zum Einsatz kommen, die er vor fünfzehn Jahren von Tanaffus bekommen hatte. Damals, als Sid geboren worden war und man bei dem Baby die entscheidende Fehlbildung des Herzens festgestellt hatte.
    Der Fahrstuhl stoppte. Eine helle Glocke läutete, kreischend fuhr die Metalltür zur Seite. Birger Jacobsen steckte den Kopf heraus und warf einen hektischen Blick in den Gang. Alles leer!
    Wie ausgestorben!, dachte er und musste unvermeidlich über das Wortspiel schmunzeln. Seine Ledersohlen quietschten auf dem welligen grünen Linoleum. Fotos von Verletzten, die vor Verbrennungen warnten und Nahaufnahmen von Darmoperationen hingen an den Wänden. Vieles mochte hier anders sein, als in den Krankenhäusern Europas und Nordamerikas. Aber die Flure und Zimmer waren ebenso hässlich eingerichtet, als ob nur ja bloß niemand gesund werden sollte.
    Er zuckte zusammen. Eine Krankenschwester schlich aus einem Zimmer. Der Schleier verhüllte ihr verhutzeltes Gesicht nur spärlich. Cool bleiben!, hämmerte er sich ein. Vorsichtig zog er den Korken von der kleinen Flasche. Es roch scharf nach Kümmel. Aber die Frau schlurfte an ihm vorbei, ohne auch nur den Blick zu heben. Seine Hand entspannte sich wieder. In der Männerabteilung drückte Birger Jacobsen die Klinke zum erstbesten Raum herunter. Eine Mischung aus Schweiß, Fäkalien und Medizin schlug ihm entgegen. Unter Bergen von Schläuchen und Kabeln vergraben keuchte ein bärtiger Fettwanst in einem überdimensionalen Bett vor sich hin. Seine Augen waren geschlossen. Der Tropf gluckerte, aus einer Sonde kämpfte sich eine bräunliche Flüssigkeit durch die Nase ins Freie. Über den Monitor jagten die Zacken des Herzschlags, etwas unregelmäßig, aber nicht bedenklich.
    Birger Jacobsen nahm die Krankenakte, die netterweise auf dem Nachttisch abgelegt worden war, und überflog sie. Mühevoll unterdrückte er seine Begeisterung. Volltreffer! Der schwitzende Fleischhaufen dort würde ihm Aufklärung verschaffen können. War Theodorakis Tanaffus? Vor zwei Wochen hatte man Ahmed al-Aziz eine neue Niere eingepflanzt. Heterotop, wie bei diesem Organ üblich, also nicht an seinem anatomisch ursprünglichen Ort, sondern im Bereich der Leistengrube. Als Birger Jacobsen die Bettdecke zur Seite zog, schlug Ahmed al-Aziz seine gelben Augen auf. Mit wässrigem Blick starrte er ihn an.
    »Doktor al-Rahim!«, schnaufte er zwischen fleischigen Lippen. »Ich habe sehr starke Schmerzen. Geben Sie mir das Mittel!«
    Während sich Birger Jacobsen die Einweghandschuhe überstreifte, stellte er den Mann mit den üblichen leeren Floskeln der Ärzte ruhig. »Sie bekommen, was Sie brauchen«, fügte er hinzu. »Gleich wird es Ihnen besser gehen!« Ruhig schnitt er den Verband mit seinem Klappmesser auf. Die Narbe war bereits gut verheilt. Gleichmäßig verrieb er das Eselsblut aus dem zweiten Flakon auf seinem Handrücken. »Hier hast du deine Medizin!«, spottete er. » Jo-Seth, ba’ek em ach, sechau’ek em heti! « Der Mann erschlaffte augenblicklich.
    Birger Jacobsen spürte, wie ein vor langer Zeit abgelegtes Gefühl in ihm hochstieg: Zweifel, nagender Zweifel. Unzählige Fragen prasselten auf sein Gehirn ein. Lag die Lösung des Geheimnisses hier in diesem Zimmer? Konnte er in dieser stickigen Kammer die Identität von Tanaffus lüften? Durfte er sich mit dem Seth-Seher anlegen? War er stark genug? Birger Jacobsen beschloss, dass er sich hier und heute noch nicht entscheiden musste, ob er seinen obersten Herrn herausfordern würde. Aber er würde dem Sieg einen entscheidenden Schritt näher kommen. Wenn sich der Verdacht bestätigte.
    Mit dem Klappmesser entfernte er die Fäden der alten Narbe und zog den lila Wulst ein Stück auseinander, bis die Wunde weit aufklaffte. Die Formel hatte ihre Wirkung getan. Der Fleischberg war vollkommen gelähmt und sein Schmerzempfinden ausgeschaltet. Birgers Augenlid begann so heftig zu zucken, wie seit einem Jahr nicht mehr. Aus einer Papiertüte streute er den roten Sand der ägyptischen Wüste in die frische Wunde, wie schon Setepenseth selbst Verletzungen geheilt

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