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Der Schatten im Norden

Der Schatten im Norden

Titel: Der Schatten im Norden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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von verfaultem Fisch, mit
Eiterbeulen, Darmwinden und einem Dutzend anderer
garstiger Dinge verglichen wurden. Jim war einfach
geplättet, was ihm nicht oft passierte. Er kramte in seiner
Tasche.
»Hier«, sagte er und hielt ihr eine Sixpence-Münze hin.
»Das war wirklich virtuos. Du hast Talent. «
Sie griff nach der Münze --- worauf er ihr eine Ohrfeige
gab, dass sie auf die Nase fiel.
»Aber du bist noch nicht schnell genug«, setzte er
belehrend hinzu. »Wohl bekomm's!«
Darauf sagte sie ihm noch einmal tüchtig Bescheid und
rief zum Schluss: »Und außerdem hast du deinen Kumpel
verpasst. Er ist gerade vorhin weggegangen. Sie hat ihm
gesagt, dass du nach ihm gefragt hast. Wer von uns ist
nicht schnell genug?«, --- und mit einem hexenhaften
Kichern machte sie sich pitschpatsch durch die Pfützen
davon. Jim fluchte und lief ins Haus.
Das einzige Licht kam von einer Kerze auf einem
wackeligen Tisch. Er nahm sie und stürmte, mit einer
Hand die Flamme schützend, eine schmale Treppe
hinauf. Die Gerüche, die ihm entgegenschlugen, waren
unbeschreiblich, bestimmt selbst für die sprachbegabte
Göre von vorhin. Wie ertrug der sonst so heikle
Mackinnon diese Pestilenz? Das Haus war ein Labyrinth.
Aus dem Dunkel blickten ihn Gestalten an
schrumpelige Gesichter, wie von alten Ratten,
schmutzige und brutale Visagen. Türen standen halb
offen oder fehlten überhaupt, stattdessen hingen Säcke
herab, hinter denen ganze Familien --- sechs, sieben, acht
und mehr Personen ---, auf Betten lungerten. Manche
aßen, manche schliefen oder lagen apathisch da oder
waren vielleicht tot.
Von Mackinnon keine Spur. Das kolossale Weib, die
Schnapsflasche wie eine Puppe an die Brust gedrückt,
saß auf dem Treppenabsatz und rührte sich nicht. Jim
ging an ihr vorbei in das letzte Zimmer --- und fand es
leer. Sie lachte schnaufend. »Wo ist er hin?«, fragte Jim.
»Wech«, kam keuchend die Antwort.
Er hatte Lust, ihr einen Tritt zu versetzen. Wortlos
drängte er sich an ihr vorbei und verließ das Haus.
Draußen stand er im verlassenen Hof, der ihm dunkler
als vorher schien, denn er hatte die Kerze ausgepustet. Im
Haus hinter ihm war es still; das kleine Mädchen war
verschwunden --- aber Jim spürte ein Prickeln auf der
Haut. Im Hof war noch jemand.
Er spürte es ganz deutlich, obwohl er niemanden sehen
oder hören konnte. Alle seine Sinne waren gespannt. Er
stand bewegungslos da, verärgert über seine Dummheit,
und holte leise den Messingschlagring hervor, den er
immer bei sich hatte. Da berührte ihn eine leichte Hand
am Arm, und eine Frauenstimme sagte: »Warten Sie... «
Er erstarrte, sein Herz begann wild zu schlagen. Vor ihm
war nur der Schimmer der regennassen Ziegelwand auf
der anderen Seite des Hofes. Sonst war alles dunkel.
»Sie sind ein Freund«, sagte die Stimme. »Er hat Ihren
Namen genannt. Folgen Sie mir. «
Es war wie im Traum. Eine mit Schal und Mantel
verhüllte Gestalt glitt an ihm vorüber und bedeutete ihm
mitzukommen. Und willenlos folgte er ihr wie im Traum.
In einem sauberen kleinen Zimmer nicht weit entfernt
von dem Hof zündete sie eine Kerze an. Ihr fiel der Schal
über das Gesicht, als sie sich nach vorn beugte, dann
sagte sie leise »Bitte... « Jim stand verblüfft da, bis sie
den Schal lüftete. Da verstand er. Ein großes, dunkles
Feuermal zog sich über eine Gesichtshälfte. Ihre Augen
waren freundlich und klug, aber was sie ausdrückten, war
unmissverständlich, und er fühlte sich beschämt.
»Verzeihung«, sagte er, »aber wer sind Sie?«
»Bitte, setzen Sie sich doch. Ich habe gehört, wie Sie
über ihn zu Mrs. Mooney gesprochen haben. Da konnte
ich nicht anders... « Er setzte sich an den Tisch, der mit
einer reich bestickten Damastdecke geschmückt war.
Alles, was er um sich herum sah, war auf eine etwas
altmodische Art zart und hübsch. Das Zimmer duftete
nach Lavendel. Auch sie war zart; ihre Sprache hatte
einen nördlichen Akzent, so schien ihm --- Newcastle?
Durham? --- und war sanft und melodiös. Sie saß ihm
gegenüber am Tisch und senkte die Augen. »Ich liebe
ihn, Mr. Taylor«, gestand sie. »Ach, jetzt verstehe ich. «
»Ich heiße lsabel Meredith«, fuhr sie fort. »Als er kam...
als er neulich Abend von seinem Auftritt in Lady
Harboroughs Haus zurückkam, wusste er kaum, was er
tat. Er kam zu mir, weil wir früher einmal... Ich habe ihm
einmal mit etwas Geld ausgeholfen. Viel habe ich nicht,
wie Sie sicherlich schon gemerkt haben. Ich arbeite als
Näherin. Dass er sich so verstecken

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