Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
rätselte. Da stand sie nun dicht davor und war kein Stück schlauer. Dann plötzlich, während sie mit den Fingern noch über das kalte, ledrige Zeug strich, stieg ein Bild in ihr auf: aus Annas’ Buch – das Bild mit dem goldenen, Feuer speienden Ungeheuer …
Kanella sprang auf. »Tormon!« kreischte sie. »Komm schnell!«
Tormon wischte sich den Regen aus dem Gesicht, lehnte sich auf seine Schaufel und schnaufte. Trotz aller Anstrengung kam er nicht recht voran bei seinem Versuch, das seltsame Geschöpf zu bergen, das Kanella gefunden hatte. Die Freilegung des Weges, die er als vorrangige Sache zuerst beendet hatte, war dagegen fast ein Kinderspiel gewesen. Während er grub, war Kanella ungeduldig um ihn herumgestrichen, doch er hatte nicht nachgegeben. Ihre Sicherheit war oberstes Gebot. Zum Glück hatte er zuerst die Weiterfahrt gesichert, denn es stand außer Frage, dass sie das Lebewesen an diesem Abend nicht mehr befreien konnten. Außer einer Flügelspitze und einem Stück des beängstigend großen Schwanzes hatten sie bislang noch nichts zutage gefördert, denn die Baumstämme, die den Hügel bildeten, behinderten die Arbeit mit dem Spaten. Eile war geboten, denn bald brach die Nacht an.
»Schneller, Tormon«, drängte Kanella. Sie kniete im Schlamm und zog mit bloßen Händen an Steinen und Ästen. »Es friert! Wir werden es nicht retten, wenn wir nicht schneller machen.«
»Das setzt voraus, dass es noch nicht tot ist. Ich sehe nicht, wie es die Lawine überlebt haben sollte.« Tormon bereitete seiner Frau diese Enttäuschung nur ungern, doch wenigstens einer von ihnen musste vernünftig bleiben. »Hör zu, Liebes«, begann er mit fester Stimme, »wir können nicht länger hier bleiben – das ist zu unsicher. Ich weiß, dass du für jede bedauernswerte Kreatur großes Mitleid empfindest – aber was ist mit Annas? Willst du riskieren, dass sie unter der nächsten Schlammlawine begraben wird? Und genau das tun wir nämlich, wenn wir noch länger hier bleiben.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Außerdem: Was wird geschehen, wenn wir es tatsächlich ausgraben, und es lebt noch? Das Tier muss riesengroß sein! Wir können es schlechterdings nicht in den Wagen laden und mitnehmen, oder?«
Kanella nagte sich an der Lippe und nickte langsam. Widerwillig sah sie ein, dass er Recht hatte. »Aber gibt es denn gar nichts, was wir tun könnten, Tormon? Was, wenn es gar nicht tot ist? Es ist ein so wunderschönes Geschöpf – es ist ein Wunder! Ich verabscheue den Gedanken, es hier zurückzulassen.«
Tormon schulterte den Spaten, nahm sie bei der Hand und führte sie entschlossen von dem verschütteten Ungeheuer fort. »Das Beste wäre, wenn wir selbst machen, dass wir von hier fortkommen und für Annas ein sicheres Lager aufschlagen. Sobald der Tag anbricht, fahren wir nach Tiarond und gehen geradewegs zum Tempel. Wir müssen unseren Fund dem Hierarchen persönlich melden.«
»Tormon! Sollen wir das wagen?«
»Selbstverständlich.« Tormon zog sie in seinen Arm und lächelte sie an. »Zum einen kann er eine Mannschaft hier heraufschicken und es ausgraben lassen – und zum anderen fallen ›Wunder‹ eindeutig in seine Zuständigkeit, nicht in unsere.«
Er band den schmutzigen Spaten außen am Wagen fest, und Kanella stieg auf den Kutschbock und nahm die Zügel, was die klare Billigung der müden, nassen und gereizten Pferde fand. Tormon war erleichtert, dass sie sich endlich auf den Weg machten. Sein praktischer Verstand hatte bereits alle Gedanken an wundersame Kreaturen beiseite geschoben und beschäftigte sich mit der Frage, wo sie das Lager aufschlagen sollten und wann sie dorthin gelangen würden. Und dass es noch andere Opfer des Erdrutsches gegeben haben könnte, kam ihm keinen Augenblick lang in den Sinn.
Zuerst war um ihn nichts. Er konnte nichts hören, nichts sehen, und er fühlte nichts. Als ob sein Körper nicht mehr existierte. Als wäre von ihm nur noch ein verwirrter, undeutlicher Funken Bewusstsein übrig geblieben. Was bedeutete das? War er tot? Überwältigende Mattigkeit hielt ihn gefangen. Sein inneres Feuer, dem er seinen Namen zu verdanken hatte, schwelte allenfalls noch. Seine Glieder waren eisig kalt … Glieder – ich erinnere mich, welche gehabt zu haben! Aber ich spüre sie nicht. Sicher bin ich tot …
Wie schwer es ihm fiel, sich zu konzentrieren. Sich zu erinnern … Was war geschehen? Wo befand er sich überhaupt? Hatten sie ihn begraben? Warum
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