Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
innere Stimme warnte Gilarra, dass es ein tödlicher Fehler wäre, vor diesem Mann eine Schwäche zu zeigen, und dass Zavahl dies hatte herausfinden müssen. Sie holte tief Luft. »Sehr gut, Hauptmann Blank. Was schlägst du also vor? Soll man den Hierarchen davon abhalten, einem Trugbild nachzujagen?«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Nein. Ich würde vorschlagen, ihn gehen zu lassen. Er wird auf dem Schlangenpass keinen Drachen vorfinden, dessen bin ich sicher. Mit diesem zusätzlichen Beweis, dass Myrial ihn verlassen hat, wird er sich in sein Schicksal fügen. Ich werde ihn – dein Einverständnis vorausgesetzt – unter Bewachung stellen und wieder in die Stadt zurückbringen lassen. Dem Volk kann die Zeremonie für morgen angekündigt werden. Damit ist Zavahls Schicksal unwiderruflich besiegelt.«
Kanella war von Ehrfurcht ergriffen. In ihrem ganzen Leben war ihr der tiefe, zweifelsfreie Glaube an Myrial eine Stütze gewesen. Und nun stand sie plötzlich und unerwartet mitten in der Heiligen Stadt vor dem mächtigsten und heiligsten Mann von Callisiora. Sie verzieh ihm, dass er so finster und übellaunig aussah. Sicher waren es wichtige Dinge, die seine Gedanken beanspruchten. Wäre sie allein gewesen, hätte sie vor lauter Ergriffenheit kein sinnvolles Wort hervorgebracht. Deshalb war sie froh, dass sie das Reden Tormon überlassen durfte, der die Menschen nicht nach ihrem Rang, sondern nach ihren Handlungen beurteilte. An dieser Begegnung teilzuhaben genügte ihr schon – nicht aber Annas, der sie verboten hatte, vom Wagen hinunterzuklettern. Unruhig und gelangweilt rutschte die Kleine auf ihrem Sitz herum und wurde gegenüber diesem nutzlosen Erwachsenengeschwätz immer ungeduldiger.
Annas zupfte sie am Ärmel und blickte zu ihr auf. »Mama, warum ist der Mann da so grantig?«, fragte sie in jenem kindlichen Flüsterton, der an Lautstärke einem Ausruf gleichkommt. Kanella erstarrte. »Sch!« machte sie und hoffte verzweifelt, dass der Hierarch diese Grobheit überhört haben möge. Sie konnte kein Anzeichen des Gegenteils entdecken, vielmehr blieb er in das Gespräch mit Tormon vertieft. »Und du bist deiner Sache sicher?«, hörte sie ihn fragen. »Es war tatsächlich ein Lebewesen? Da ist kein Irrtum möglich?«
»Nein, Herr«, versicherte ihm Tormon. »Es war ein riesiges fremdartiges Tier – so viel steht fest –, aber ob es noch am Leben war, konnte ich nicht feststellen. Ich bezweifle wohl, dass es den Erdrutsch lange überlebt hat. Doch wer kann das wissen?«
»Du kannst mich dorthin führen? Wenn es wahr ist, was du sagst, könnte es eine Belohnung für dich geben.«
»Ich werde dir die Stelle zeigen, Herr.«
Der Hierarch – der Hierarch in eigener Person – legte einen Arm um Tormon, und Kanella wuchs vor Stolz. »Mein guter Mann«, sagte er gerade zu ihrem Lebensgefährten, »komm, wir wollen deiner Familie nicht zumuten, den Weg ins Gebirge noch einmal zu machen. Sie haben es hier ganz bequem, bis wir wieder zurück sind.«
Bei diesen Worten wurde es Kanella unbehaglich zumute. Sie schaute von dem Hierarchen zu dem Haufen ernst dreinblickender, schwer gepanzerter Soldaten und schließlich zu deren grimmigen Anführer. Der einzige Mensch, der nicht einschüchternd wirkte, war die kleine gedrungene Frau mit dem angegrauten dunklen Haar, und selbst die runzelte die Stirn. Unausgesprochener Ärger war ihr anzusehen. Plötzlich wollte Kanella nicht länger bleiben. Die dunkle Felsenschlucht, die nur einen einzigen Ausgang hatte, erinnerte sie sehr an eine Falle. Doch dann ermahnte sie sich, nicht töricht zu sein. Wenn sie nicht einmal Myrials erstem Diener trauen konnte, wem dann?
Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Kanellas schüchtern vorgetragene Einwände wegen ihrer Pferde wurden beiseite gefegt. In den Ställen werde man schon einen Platz für sie finden. Während man Boten in die Stadt sandte, um Wagen und Ochsen zu mieten, mit denen man auf den Pass fahren wollte, wurden Kanellas Tiere gut versorgt. Dennoch spürte sie in jedem Augenblick die grüblerische Gegenwart des Hierarchen und seine kaum verhohlene Ungeduld.
Schließlich war alles bereit. Der Anführer der Soldaten, die den Hierarchen begleiten würden, lieh Tormon ein frisches Pferd, und man stand kurz vor dem Aufbruch. Tormon umarmte Frau und Tochter. »Es sollte nicht allzu lange dauern, Liebes«, versicherte er. »Wir werden wahrscheinlich bei Einbruch der Dunkelheit zurückkehren, je nachdem, wie
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