Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
lange wir brauchen, um das arme Tier auszugraben. Wenn alles vorbei ist, können wir an die Unterkunft für den Winter denken.«
Kanella schluckte schwer und schalt sich eine Närrin. »Beeil dich«, flüsterte sie. »Und, Tormon, du wirst doch vorsichtig sein, ja?«
Er lächelte sie an. »Mach dir keine Sorgen – ich habe nicht vor, mir die Hände schmutzig zu machen. Diesmal überlasse ich die harte Arbeit diesen kräftigen Soldaten.« Er drückte sie ein letztes Mal an sich, dann stieg er aufs Pferd. Als die Reitergruppe auf den Tunnel zu ritt, wandte Kanella sich ab. Sie wollte einfach nicht hinsehen. Der Tunneleingang erschien ihr wie ein aufgerissener Rachen, der nur darauf wartet, einen Unvorsichtigen zu verschlingen.
»Komm mit mir, meine Liebe!«
Eine Berührung am Arm ließ Kanella herumfahren, und sie sah sich der kleinen Frau gegenüber, die wohl die Suffraganin Gilarra war, die vor Myrial an zweiter Stelle stand. »Gnädige Herrin …« Sie wollte sich verbeugen, aber die Suffraganin lächelte freundlich und zog sie empor. »Wir wollen nicht förmlich sein … Kanella, nicht wahr? Das Leben ist zu kurz. Komm, meine Liebe – du und deine Kleine, ihr könnt in meinem Haus bleiben. Ich habe einen Sohn im gleichen Alter.«
Gilarra wollte die beiden zu den Handwerkerwohnungen führen, als sich ihnen ein Soldat in den Weg stellte. »Es tut mir Leid, Suffraganin, aber ich habe Befehl von Hauptmann Blank, dass diese Leute in der Zitadelle zu bleiben haben, bis der Hierarch zurückkehrt.«
»Und diesen Befehl habe ich soeben geändert«, versetzte Gilarra mit unveränderter Miene, doch Kanella glaubte einen Anflug von Ärger in ihrem Blick wahrzunehmen.
Der Soldat schüttelte bedauernd den Kopf. »Es tut mir wirklich Leid, Suffraganin, aber sowohl der Hauptmann als auch der Hierarch persönlich haben ihre Wünsche sehr klar geäußert, und ich muss ihnen gehorchen … Vielleicht kann man die Angelegenheit klären, wenn sie wiederkommen?«
»Dessen darfst du sicher sein«, antwortete Gilarra mit gepresster Stimme, doch als sie sich zu Kanella umwandte, lächelte sie wieder. »Diese Männer! In ihrem Eifer, euch beiden Ruhe zu gönnen, haben sie sich keinen Augenblick überlegt, dass ihr bei mir viel besser aufgehoben wäret als in der kalten Zitadelle.« Und sie zuckte mit den Schultern – ein wenig zu ungezwungen, wie Kanella fand. »Das soll uns nicht betrüben, liebe Frau, und wir werden euren Begleitschutz nicht in Schwierigkeiten bringen. Geh mit ihm, und lass dich von ihm unterbringen. Ich komme später zu dir.« Sie bedachte den unglücklichen Soldaten mit einem langen kalten Blick. »Du wirst mir dafür sorgen, dass ihnen jede Bequemlichkeit zuteil wird, verstanden?« Und sie ging fort, bevor Kanella noch etwas sagen konnte.
Ihr Bewacher sah nicht allzu einschüchternd aus und hatte auch ein freundliches Wort und ein Lächeln für Annas übrig. Kanella versuchte sich damit zu trösten, während sie aus der Handwerkersiedlung fortgebracht und durch ein goldenes Tor geführt wurden. Sie war überrascht, dass es hinter der hohen Mauer auch Gärten gab. Rechter Hand befand sich ein Obsthain, und auf der anderen Seite ein schlicht angelegter Garten, in dem freilich längst nichts mehr wuchs. Sie wusste zwar nicht, was sie eigentlich erwartet hatte, aber jedenfalls nichts so Gewöhnliches … Jenseits der Pflanzungen erblickte sie einige Gebäude, die ihr groß und beeindruckend vorkamen. Sie waren aus demselben gelben Stein erbaut, aus dem die Felswände der Schlucht bestanden.
Als sie an diesen Häusern vorüber waren, gelangten sie auf den weiten Platz vor dem Myrialstempel. Kanella hielt vor Staunen die Luft an, als sie die Fassade vor sich sah, deren Felsrelief wie eine Maske auf sie herabzublicken schien. Wie hatten schwache Menschenhände ein Wunder solcher Schönheit und Größe hervorbringen können? Sicher hatte der Gott selbst ihnen dabei geholfen. Wenn dem Hierarchen der Drache gefiele, würde er sie vielleicht in den Tempel schauen lassen …
»Mama – ich bin schon ganz nass.«
»Komm weiter, Frau, und steh nicht gaffend im Regen.«
Kanella hatte nicht bemerkt, dass sie stehen geblieben war, bis die barsche Stimme des Wachmanns sie aufschreckte und sie die drängende Hand ihrer Tochter spürte. »Entschuldigung«, murmelte sie und wandte sich ab, um dem Soldaten zu folgen. Doch schon im nächsten Augenblick hielt sie wieder an. Die Felsenzitadelle, die ihre Bestimmung sein sollte,
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