Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
warum sollte er auch noch mit leeren Händen weggehen? Er bückte sich und band hastig den Sack auf.
Er ignorierte den Verwesungsgeruch, der noch schwach, aber schon unerfreulich war, und schenkte dem kalten erstarrten Körper keinerlei Beachtung. Nun wollen wir doch mal sehen, dachte er. Es gibt keine armen Händler – sie haben immer irgendetwas Wertvolles … Er brauchte eine Zeit lang, um die vielen Taschen in dem Lederwams zu durchsuchen, doch er brachte nichts weiter hervor als eine Hand voll Getreide, ein paar verschrumpelte Möhren und Honigbonbons. Barsil fluchte. Verdammtes Pferdefutter! Dieses Miststück! In der Innentasche fand er auch nur ein paar Kupfer- und Silberstücke. Nun, besser als nichts. Er nahm die Goldringe aus den Ohrläppchen und die dünne Kette vom Hals und ließ sie zusammen mit den Münzen in seiner Tasche verschwinden. Damit würde immerhin eine Nacht mit einer Hure herausspringen.
Mehr war nicht zu holen. Die Stiefel aus robustem geschmeidigem Leder passten ihm nicht. Aber möglicherweise ließe sich mit der Weste noch etwas anfangen … Er drehte die Tote herum und streifte die Weste ab. Er war ungehalten, weil die Leichenstarre ihm die Sache erschwerte. Bevor er die Weste anprobierte, verschloss er den Sack. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand vorbei käme, und je weniger Fragen er beantworten musste, desto besser.
Dann vergewisserte er sich mit einem raschen Blick, dass er unbeobachtet war, nahm seinen schwarzen Umhang ab und legte ihn zusammengefaltet auf den Sack, um ihn nicht schmutzig werden zu lassen. Er fuhr mit den Armen in das Wams und – »Bei Myrials finsterem Arschloch!«, knurrte er. »Das Mistding ist auch zu klein.« Unter wilden Flüchen warf das Kleidungsstück zu den abgelegten Stiefeln und versetzte dem ärgerlichen Haufen einen Tritt. Schon wollte er auch die Leiche treten, doch eilige Schritte ließen ihn mitten in der Bewegung anhalten, und er ruderte mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
Zu seiner Erleichterung war es nur der junge Scall, der Lehrling der Schmiedemeisterin. Agella schmiedete die Waffen für Myrials heilige Krieger, und darin war sie unvergleichlich gut. Außerdem war sie der Hufschmied für die Reittiere der Boten und für die Streitrosse der Gottesschwerter. Jeder wusste, dass es Unglück bringt, dem Schmied über den Weg zu laufen, und daher begegnete ihr jeder von der Zitadelle mit Vorsicht und Respekt. Natürlich galt das nicht für den schmächtigen, lustlosen Grünschnabel von einem Lehrling, der da über den Hof eilte und zweifellos von einem Botengang zurückkehrte.
Beim Anblick des Jungen kam ihm der Einfall. Vielleicht war dieser Tag doch nicht so ein Reinfall. »He!«, zischte er. »He, du! Lehrling!«
Der Junge machte einen Satz wie ein Floh. »Ich?«
Der Soldat stöhnte. »Natürlich du. Wer sonst? Beweg deinen Hintern hierher!«
Mürrisch und widerstrebend schlurfte Scall auf den Soldaten zu. Sein Gesicht hellte sich etwas auf, als er sah, dass es nur Barsil und nicht etwa jemand von Rang war. »Was willst du? Meisterin Agella hat gesagt, ich soll sofort wiederkommen. Sie wird wirklich böse sein …«
»Kümmere dich nicht um sie«, sagte Barsil und legte ihm einen Arm um die Schultern. »Ich habe hier nämlich etwas für dich«, flüsterte er verschwörerisch. Dabei hob er die Lederweste auf und hielt sie dem Jungen zur Begutachtung hin. »Na, wie wäre es? Ist doch wie für dich gemacht.«
Scall streckte die Hand nach der Weste aus. Die könnte er sich niemals leisten. Plötzlich schreckte er zurück, zu Barsils Verärgerung. »Was ist jetzt los?«, verlangte der Soldat zu wissen.
Der Junge zog die Brauen zusammen. »Die ist gestohlen. Sie gehört der Händlersfrau. Ich hab’s gesehen, als sie heute Morgen angekommen sind.«
Bei Myrials Misthaufen! Barsil biss die Zähne aufeinander und beeilte sich nachzudenken. »Äh – natürlich gehörte sie der Händlersfrau. Sie hat sie mir nämlich verkauft.« Er verlegte sich auf Leutseligkeit. »Du weißt doch wie die Händler sind. Ständig wollen sie einem etwas andrehen …« Unterdessen versuchte er, den Jungen von dem Leinensack wegzulotsen.
»Hat sie dir die ebenfalls verkauft?« Scall zeigte auf die Stiefel, die auf dem Boden lagen. »Scheint mir komisch, dass jemand seine Stiefel verkauft.«
Barsil versetzte dem Jungen einen Schlag hinters Ohr, freilich nicht zu fest, denn er hoffte noch, dass sie sich handelseinig würden. »Keine
Weitere Kostenlose Bücher