Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Vielleicht verdienst du es, so zu sterben.
»Galveron, bitte, reiche mir eine Schüssel mit warmem Wasser. Der Kessel steht neben dem Herd.« Gilarra bebte innerlich. Es war geradezu, als ob der Leutnant seinen Zorn mit dem Kind auf sie übertragen hätte. Oh, Zavahl, wie konntest du das nur tun?
Bevron schob den Kopf zur Küchentür herein, sah zuerst das Kind, dann Gilarras Gesicht und verschwand wieder, um Aukil beschäftigt zu halten. Gilarra wusste angesichts der Steilfalte auf seiner Stirn, dass sie später eine Menge schwieriger Fragen zu beantworten hätte. Doch zugleich wusste sie, dass sie immer auf sein Verständnis zählen konnte. Geduldig zog sie das Mädchen aus und wusch sie sanft, wobei es sehr schwierig war, Annas zu überreden, auch nur für einen Augenblick den Daumen aus dem Mund zu nehmen. Nachdem sie sie mit einem weichen Handtuch abgetrocknet hatte, steckte sie sie in ein Nachthemd von Aukil – und zog ihr ein anderes über, nachdem es ein Missgeschick mit der warmen Milch gegeben hatte.
Gilarra gab es auf und hoffte, Annas genug von der Milch eingeflößt zu haben, dass sie von dem Schlafmittel darin zur Ruhe käme. Dann brachte sie das Kind in das große gemeinsame Bett. Als sie in die Küche zurückkehrte, lief Galveron wie ein gefangener Wolf hin und her, und in seinen Augen brannte ein seltsames Feuer. »Warum?«, fragte sie ihn. »Warum würde der Hierarch eine solche Grausamkeit befehlen? Den kaltblütigen Mord an einer Frau und ihrem Kind …«
Der Leutnant blickte sie hinter der Maske seines offenen, freundlichen Gesichts hervor an. Seine Jugendlichkeit war verschwunden. »Du bist diejenige, die ihn am besten kennt, Suffraganin. Ich hatte gehofft, dass du mir das erklären könntest.«
Gilarra nahm den Topf vom Herd, in dem der Tee simmerte. Schwarz und todbringend sah er aus. Sie goss eine Tasse davon ein und veranlasste Galveron, sich wieder hinzusetzen und zu trinken. »Du hast dich in große Gefahr gebracht«, sagte sie leise. »Was willst du tun, wenn Blank und Zavahl zurückkommen und du keine Leiche vorweisen kannst?«
Er zuckte die Achseln. »Fliehen vielleicht«, antwortete er müde. »Anderenfalls werde ich ausgepeitscht oder eingesperrt. Wer weiß, bei der gegenwärtigen Laune des Hierarchen sterbe ich möglicherweise den Tod eines Verräters.« Er hob den Kopf und sah Gilarra bittend an. »Aber ich musste sie retten, Suffraganin – ich konnte doch nicht zulassen, dass sie ermordet wird. Sie ist noch so klein.«
Gilarra, die sich ohnehin schon verantwortlich fühlte, versank noch tiefer in Schuldgefühlen. Das war mein Fehler, dachte sie. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Ich hätte darauf bestehen müssen, Annas und ihre Mutter mitzunehmen. Kanella würde noch leben, wenn ich es getan hätte. Nun steht meinetwegen auch das Leben dieses edlen jungen Mannes auf dem Spiel, seine ganze Zukunft ist zunichte gemacht. Und da alles schon so weit gekommen ist, darf der Hierarch niemanden am Leben lassen, der seine Hinterlist bezeugen könnte. Wenn es keine Leiche gibt, wird er alles auf den Kopf stellen, um das Kind zu finden …
Es sei denn, er ist nicht mehr der Hierarch.
Gilarra war, als nähme man ihr eine schwere Last von den Schultern, und sie erkannte, zu welchem Nutzen sie Zavahls Macht einsetzen konnte, sobald er ihrer ledig war. Sie legte Galveron eine Hand auf den Arm und sagte: »Ich werde es zu meiner persönlichen Angelegenheit machen und dafür sorgen, dass nichts geschieht, wenn Hauptmann Blank zurück ist. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Der junge Mann schnappte nach Luft. »Du willst den Hierarchen absetzen!«
Bei Myrial, er begreift schnell, dachte Gilarra, und laut sagte sie: »Du wirst darüber schweigen – hörst du? In der Stadt wird man noch früh genug davon erfahren.« Sie konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als ein weiterer Gedanke sie durchzuckte. Wenn sie erst die mächtige Stellung innehätte, mochte es mehr als nur ein Mittel geben, um sich vor Blank und seinen Machenschaften zu schützen. »Galveron – falls ich Hierarchin werden sollte, wird sich einiges ändern. Was würdest du von einer Anstellung als Leibwächter halten?«
Der junge Mann zeigte ihr zum ersten Mal ein Lächeln. »Herrin – das würde mir sehr gut gefallen.«
Nachdem Galveron gegangen war, sah Gilarra noch einmal nach Annas. Die Kleine schlief tief und fest. Der Daumen steckte unverrückbar in ihrem Mund. Nun war sie eine Waise, denn Zavahl dürfte kaum
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