Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
hielt.«
»Der zweifellos du gewesen wärst«, fügte Bevron leise hinzu.
Gilarra zuckte mit den Schultern. »Oh, ich will gar nicht abstreiten, dass ich das Was-wäre-wenn-Spiel oftmals gespielt habe, als ich noch jung und ehrgeizig war. Es gehört eben zu meinem Schicksal, dass ich erst jetzt Hierarch werde, wo ich es als allerletztes sein möchte und die Suppe auslöffeln muss, die Zavahl eingebrockt hat. Und was Blank betrifft, so bin ich nicht allzu sehr von der Reinheit seiner Motive überzeugt, und auch nicht -« Es klopfte leise und mehrmals rasch hintereinander an der Tür. Es klang geradezu verstohlen.
»Na, wer kann das sein?« Gilarra überkam eine tiefe Unruhe. Sie schalt sich, nicht töricht zu sein, doch sie wurde die Gedanken an die Händlersfrau und ihre kleine Tochter nicht los, die man in den düsteren Rachen der Zitadelle geworfen hatte. »Ich werde öffnen.« Sie winkte ihrem Mann, am Feuer liegen zu bleiben, warf die Handarbeit in den Korb zurück und eilte zur Tür.
Auf der Schwelle stand der junge Galveron. Ein Blick in sein Gesicht sagte ihr alles, was sie wissen musste. Sie machte einen Schritt rückwärts und sank gegen den Türpfosten. Doch sie hatte nicht umsonst ihr Leben damit zugebracht, die Schwierigkeiten dieser Stadt zu meistern, die ein unerfreulicher Hierarch an sie delegiert hatte. Also tat sie, was sie immer getan hatte: Sie nahm sich zusammen. Da erst sah sie, dass der Leutnant ein Bündel im Arm trug. Er versteckte es zwischen den weiten Falten seines Umhangs. Galveron blickte ihr in die Augen und nickte. »Kommt rein – schnell!«, zischte sie, schob ihn in den engen Korridor, warf die Tür zu und verriegelte sie.
Galveron warf einen gequälten Blick in das behagliche Zimmer, wo Bevron und sein Sohn vergnügt mit ihrem Spiel beschäftigt waren, und wandte sich rasch ab. Er ging wortlos in die Küche, setzte sich an den langen gescheuerten Tisch und öffnete seinen Umhang. In seinem Arm lag das kleine Mädchen mit zerzausten Haaren und schmutzigem, tränenverschmiertem Gesicht. Der Daumen steckte im Mund, die Augen, die Gilarra so lebhaft und glücklich gesehen hatte, starrten ausdruckslos ins Leere.
»Myrial sei gnädig!« Gilarra kniete sich neben ihm nieder und streckte sacht die Hand nach dem Gesicht des Kindes aus. »Annas? Annas?« Doch das Kind verschloss fest die Augen und drehte den Kopf weg. Es gab keinen Laut von sich, nicht das leiseste Wimmern.
»So ist sie, seit ich sie gefunden habe«, sagte Galveron gepresst. »Ihre Mutter … sie … ich kam zu spät. Hingerichtet auf Befehl des Hierarchen. Die Kleine hat alles mitansehen müssen. Sie ist davongerannt und hat sich versteckt. Dann wurde alles abgesucht. Ich war ihre einzige Rettung. Wenn sie ein anderer gefunden hätte …« Er schüttelte den Kopf, sein Atem ging heftig wie nach einer immensen Anstrengung. Gilarra sah ihm in die Augen und begriff, dass nicht die Trauer ihm zu schaffen machte. Schließlich war er Soldat und keineswegs so naiv, wie sein gütiges Gesicht und sein freier, offener Blick vielleicht glauben machten. Nein, Galverons innerer Aufruhr entsprang seinem Zorn, purem glühendem Zorn, den er mühsam unterdrückte, um Annas nicht weiter zu ängstigen oder vielleicht Gilarras Sohn zu beunruhigen.
»Ich fand sie schließlich im Hof«, fuhr Galveron mit belegter Stimme fort. »Myrial allein weiß, wie sie so weit kommen konnte, ohne gefangen zu werden. Sie hatte sich in diesem albernen Wagen versteckt.«
Gilarra bemerkte, wie er das Kind an sich drückte, doch es blieb vollkommen still. »Gib sie her, ich nehme sie jetzt«, sagte sie, und Galveron legte ihr rasch das Kind in die Arme, als könnte er dadurch das schreckliche Wissen, wie es hierher gekommen war, abstreifen.
Gilarra wiegte das Mädchen leise summend hin und her und war entschlossen, nicht daran zu denken, wer seinen Tod angeordnet hatte. Jetzt nicht, noch nicht, sang sie für sich im Rhythmus ihres Wiegens. Das Wichtigste zuerst … Doch gerade als sie das Ungeheuerliche aus ihrem Bewusstsein verbannt hatte, wusste sie schon, dass der Schrecken nur zu bald wieder sein Haupt heben würde. Dann musste sie der Tatsache ins Auge blicken, dass der Zavahl, den sie zeit ihres Lebens gekannt und wie einen Bruder geliebt hatte, sich in einen furchtbaren, ihr fremden Menschen verwandelt hatte.
Dafür sollst du verdammt sein, Zavahl, dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen, und sie spürte, wie sie sich gegen ihn verhärtete.
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