Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
schaffte es zu nicken. Dann wollte er Barsils drohenden Blick und das höhnische Gejohle der Wachsoldaten keinen Augenblick länger ertragen. Er stieß dem Esel die Hacken in die Weichen und machte, dass er mit den trappelnden Pferden im Schlepptau zum Tor hinaus kam. Noch eine ganze Weile, nachdem er den Weg zum Gebirge eingeschlagen hatte, klang ihm das raue Gelächter in den Ohren.
Seriema saß über die Zahlenreihen gebeugt und war nicht willens, sich aus der Konzentration zu reißen, indem sie eine Lampe anzündete. Daher kniff sie zunehmend die Augen zusammen, um die Ziffern noch erkennen zu können, während es draußen dämmerte. Ich werde mich gleich darum kümmern, versprach sie sich nicht zum ersten Mal und folgte mit dem Blick der säuberlich geschriebenen Bestandsliste.
Zahlen hatten schon immer einen besonderen Reiz auf sie ausgeübt, besonders wenn sie sich auf ihre kaufmännischen Unternehmungen bezogen. Als sie noch ein Kind war, hatte sie ihrem Vater – der damals den Vorsitz der mächtigen Handelsvereinigung innehatte – sehr gern im Kontor Gesellschaft geleistet. Sie war für ihr Alter ungewöhnlich ausdauernd gewesen, wenn sie ihrem Vater zusah, wie er mit der Feder die langen Zahlenkolonnen abarbeitete.
Manchmal hatte er ihr – als besondere Zuwendung – seine detailliert gezeichneten Karten gezeigt und von den Bergen erzählt, die ihr allein gehörten, von dem Gold, den Edelsteinen, dem Silber und dem Kupfer, das dort abgebaut werde. Er malte ihr aus, wie die Erntefeste in den fruchtbaren Ebenen gefeiert wurden, beschrieb ihr die wohlschmeckenden Gewürze und ausgefallenen Weine aus den Hügellanden des Südens, wo die Hitze über den Olivenhainen flimmert und die silbergrauen Baumstämme glänzen lässt. Ganz vorsichtig fuhr sie dann mit dem Finger die Handelsrouten entlang, die sie in Fantasiespielen plante, während der Kaufmann Stemond zuversichtlich auf einen Sohn wartete, welcher dereinst sein Handelshaus übernehmen sollte. Unterdessen betrachtete er sein kleines Mädchen mit nachsichtigem Lächeln, das freilich mit den Jahren immer säuerlicher geriet, weil langsam in ihm die Erkenntnis reifte, dass Seriema sein einziges Kind bleiben sollte.
In des Vaters Fußstapfen zu treten war für Seriema nicht leicht gewesen. Zwar glaubten die Einwohner Tiaronds, sie hätte zu Lebzeiten ihres Vaters nichts weiter getan, als darauf zu warten, dass ihr sein Reichtum in den Schoß fiele, und auch nach seinem Tod nur wenig mehr zu tun, als auf ihrem Geld wie eine Henne auf den Eiern zu sitzen. In beidem lagen sie von der Wahrheit so weit entfernt, wie es nur ging. Als Seriema siebzehn Jahre alt war, musste sie sich mit Klauen und Zähnen gegen eine Heirat wehren. Ihr Vater beharrte darauf, dass sie einen fähigen jungen Kaufmann heiratete, den Sohn irgendeines Zunftgenossen, damit nach seinem Tod ein Mann seine Geschäfte weiterführte und hoffentlich einen Erben hervorbrachte, der in ferner Zukunft seine Nachfolge antreten mochte. Nach den erbitterten Auseinandersetzungen stand es zwischen ihr und ihrem Vater nie wieder wie zuvor, und nicht einmal der Tod der Mutter, der, wie manche behaupteten, den unaufhörlichen Zwistigkeiten zwischen Vater und Tochter geschuldet war, konnte die Kluft noch überbrücken. Stemond hatte kein Verständnis für das, was er als Seriemas Selbstsucht ansah, und warf ihr vor, die Vorsorge für die Zukunft des Hauses verweigert zu haben. Sie andererseits konnte ihm nie verzeihen, dass er rundheraus kein Vertrauen in ihre Fähigkeiten besaß und auf einem blinden, undurchdachten Vorurteil gegen sie beharrte, weil sie kein Mann war. Am Ende bekam sie ihren Willen – was sie stets gewusst hatte, denn es gab niemanden, der Stemonds zahlreiche Unternehmen erben konnte, außer seiner aufsässigen Tochter.
Ohne Zögern hatte Seriema sich vorgenommen, der Welt zu beweisen, dass sie nicht nur so gut war wie ihr Vater, sondern dass sie sogar erfolgreicher sein konnte als er oder irgendein anderer Kaufmann in Tiarond. Das hatte für sie bedeutet, fleißiger, zäher und rücksichtsloser zu sein als ihre Geschäftspartner, und rasch hatte sie sich die dazugehörige Dickfelligkeit angeeignet. Die Kaufleute, die sich gleich nach Stemonds Tod wie aufgeregte Haie auf sie stürzten, mussten umgehend erkennen, wie falsch sie Seriema eingeschätzt hatten – und zumeist auf unangenehme Weise. Auch wenn Seriema über die Jahre hinweg einsam und ohne Freunde hatte leben
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