Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
alte Haushälterin wäre am liebsten gleich herausgeplatzt, sobald sie den Raum betreten hatte. Es war kaum Zeit verstrichen, da schaute sie von dem Feuer auf, um das sie sich kümmerte, und sprach ihre Herrin in jenem ärgerlichen, vertraulichen Ton an, den alte Bedienstete bisweilen annehmen, wenn sie ihre Herrschaft schon in den Windeln gekannt haben. »Du solltest das hässliche Wetter nicht so schwer nehmen. Das tut dir nicht gut.«
»Wirklich scharfsinnig beobachtet«, erwiderte Seriema. »Hast du auch irgendwelche zweckmäßigen Vorschläge zu machen, zum Beispiel wie ich das zuwege bringen soll?« Nachdem ihre Eltern gestorben waren, hatte sie die Verhätschelungen der Haushälterin in ähnlicher Weise entgegengenommen wie Presvels Besorgtheit. Doch seit sie Oberhaupt der Handelsvereinigung war und dort die Verantwortung übernommen hatte, ging ihr der fortgesetzte Mangel an Respekt gegen den Strich.
Die dicke, grauhaarige Marutha stand schwerfällig auf und erwiderte eingeschnappt: »Du hast keinen Grund, mich so zu behandeln! Ist es meine Schuld, dass du dich so aufregst?«
»Nein, aber du sorgst durchaus dafür, dass es dabei bleibt!«, zischte Seriema. »Geh um Himmels Willen und such dir eine nützliche Beschäftigung.«
»Das werde ich. Verzeihung, gnädige Herrin!« Sie machte ein gekränktes Gesicht und schlurfte leise schimpfend hinaus. Seriema setzte sich in den Sessel am Kamin, verbarg das Gesicht in den Händen und gab sich einmal mehr ihren Sorgen hin. Es spielte keine Rolle, wie sorgfältig oder wie häufig sie die Berichte las, das Ergebnis war immer dasselbe: Der Handel war in die Knie gegangen. Und wenn sich nicht bald ein Wunder ereignete und den Regen beendete, würde Callisioras Handel, der sich über Jahrhunderte hinweg entwickelt hatte, vollkommen zusammenbrechen. »Und sobald keine Waren mehr das Reich durchqueren, marschieren die Heere«, sagte sie zu sich selbst, und es lief ihr kalt den Rücken hinunter. Sie dachte nicht nur an ihren persönlichen Ruin, sondern auch an den Zerfall Callisioras.
Das schroffe Klopfen an der Tür des Arbeitszimmers war ein sicheres Zeichen dafür, dass Marutha ihre schmollende Haltung noch für ein paar Stunden nähren wollte, wenn nicht sogar für die nächsten Tage. »Da ist jemand, der dich sprechen will, Herrin. Sie will nicht sagen, wer sie ist. Hat sich vollkommen in einen schwarzen Umhang eingewickelt, sodass ich ihr Gesicht nicht sehen kann. Sie redet nicht gerade wie eine Bettlerin, und sie behauptet, es wäre eine Sache auf Leben und Tod. Willst du sie empfangen, oder soll ich Presvel sagen, er soll sie hinauswerfen? Wenn du mich fragst, ich würde nicht …«
»Niemand fragt dich, verdammt noch mal!« Zu ihrer Bestürzung hörte Seriema sich kreischen wie ein Fischweib. Wirklich, dachte sie, es ist höchste Zeit, dass Marutha aufs Altenteil gesetzt wird. Dann werde ich eine Haushälterin einstellen, die sich zu benehmen weiß. Sie atmete einmal tief durch und fasste sich wieder, um die vorliegende Angelegenheit anzugehen. Wer zu so später Stunde vorsprach, musste einen außergewöhnlichen Grund dazu haben. Seriemas Neugier erwachte.
»Ich werde die Besucherin empfangen, Marutha. Wohin hast du sie gebracht? In den Empfangsraum? Sehr gut, aber hole Presvel und lass ihn vor der Tür bereit stehen.« Sie schenkte Maruthas übelnehmerischer Art keine weitere Beachtung, knöpfte sich den Kragen ihres braunen Samtkleides zu und ging mit raschen Schritten auf die Treppe zu.
In der Tür zum Empfangsraum blieb sie stehen. Der befremdliche Anblick der kleinen Person, die sich in einen Soldatenmantel hüllte, der ihr viel zu groß war, machte sie zögerlich.
»Willst du nicht lieber die Tür schließen?«, fragte die Person mit tiefer Stimme, die gleichwohl eindeutig weiblich war und sich seltsam vertraut anhörte. Seriema gehorchte aus lauter Verwirrung. Das harte Einrasten des Riegels klang bedeutungsvoll, als habe er gerade die Fäden ihres Lebens, die sie bisher fest in der Hand gehalten hatte, gekappt und alle Pläne verwirrt, sodass sie sich einer unbekannten Zukunft gegenübersah.
»Nun steh doch nicht da wie ein Dummkopf. Hilf mir lieber aus diesem unpraktischen Ding heraus«, sagte die Besucherin ungehalten. »Nun mach schon, Seriema – ich habe beide Hände voll, und ich habe nicht die ganze Nacht Zeit.«
In diesem Moment erkannte Seriema die Stimme. »Gilarra? Bist du es? Was soll dieser Aufzug?« Sie löste die Schnalle des
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