Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
Umhangs, der zu Boden fiel und eine zerzauste, rotwangige Suffraganin enthüllte, die ein schlafendes Kind in den Armen trug. Seriema schnappte nach Luft.
»Sie wird nicht aufwachen«, sagte Gilarra leise. »Ich musste die arme Kleine betäuben, es hätte sie fast umgebracht.« Sie legte das Mädchen auf eine Liege, die mit einer Tapisserie bedeckt war, und reckte sich mit einem übertriebenen Seufzer. »Wie kommt es, dass Kinder immer schwerer sind, als sie aussehen?«
Seriema schaute sprachlos zu, wie die Suffraganin die Arme in die Luft warf, sie vor- und zurückschwang und ihre Blutzirkulation wieder in Gang brachte. Und während der ganzen Vorstellung bewegte sich das Kind kein einziges Mal – auch nicht nach dem energischen Pochen an der Tür.
»Hier bringe ich einen schönen heißen Tee für dich und deinen Besuch, Herrin«, flötete Marutha.
Gilarra riss erschrocken die Augen auf. »Lass sie nicht herein! Man darf mich auf keinen Fall erkennen.«
Vollkommen verwundert, was eigentlich vor sich gehen mochte, gab Seriema ihrer Haushälterin mit der gleichen falschen Freundlichkeit Anweisung: »Stell das Tablett draußen ab, Marutha. Ich hole es gleich schon selbst herein.«
»Gut! Es gibt vermutlich für alles ein erstes Mal.« Die übellaunige Bemerkung drang vollkommen deutlich durch die Tür, gefolgt vom Klirren des Porzellans, als das Tablett unsanft auf dem Servierwagen in der Halle abgestellt wurde. Dann war es still.
»Das ist alles, Marutha«, sagte Seriema in unmissverständlichem Ton.
»Pah!« war die Antwort, und dann dröhnten Maruthas Trampelschritte, wurden leiser, als sie sich entfernte und verstummten.
»Ich sehe schon: Vorsitzende der Handelsvereinigung und des Bergbaukonsortiums zu sein ist doch etwas anderes, als man darüber so behauptet.« Gilarra stellte sich vor das Kaminfeuer und streckte ihre kalten Hände darüber aus. »Warum holst du nicht den Tee herein, meine Liebe? Ich bin ganz durchfroren.«
»Wie du möchtest.« Seriema war durch Gilarras neuerliche Anmaßung sehr verärgert, und geheimnisvolles Gehabe hatte sie schon immer verabscheut, doch sie hielt sich fest im Zaum. Nicht umsonst hatte ihr die Fähigkeit, äußerlich ruhig zu bleiben, in all den Jahren, in denen sie es mit schwierigen Verhandlungen und scharfsinnigen Gegnern zu tun hatte, große Vorteile beschert. Außerdem überstieg ihre Neugier den Zorn, den Gilarras Dramatik und Ausflüchte bei ihr weckten. Warum stand die Suffraganin nach so langer Zeit plötzlich auf ihrer Türschwelle? Als sie noch zur Schule gingen, waren sie für eine Weile befreundet gewesen. Aus irgendeinem Grund, den Seriema nie begriffen hatte, hatte sich Gilarra damals um die schüchterne Kaufmannstochter gekümmert. Doch nach einer Weile wurde der Altersunterschied von sechs Jahren bedeutsam: Während Gilarra, die Auserwählte für das Amt der Suffraganin, in die Vorrechte und Verantwortlichkeiten dieser Stellung hineinwuchs, hatte sie sich immer mehr von der Freundin abgewandt und Seriema einmal mehr der Einsamkeit überlassen. Das trug sie der Suffraganin zwar noch immer nach, doch war sie gleichzeitig überzeugt, dass Zavahl ihr die Freundin weggenommen hatte, weil es ihm dienlich erschienen war.
Als Seriema die Tür öffnete, um das Tablett zu holen, sah sie Presvel gehorsam an der Treppe stehen. Entschlossen winkte sie ihn fort. Nach einigem Widerstreben ging er, und sie schloss aus seinem besorgten Gesichtsausdruck, dass Marutha ihn instruiert hatte, die Vorgänge so weit wie möglich zu belauschen.
Seriema schenkte den Tee ein und setzte sich der Suffraganin gegenüber. »Nun, ich erwarte deine Erklärung«, sagte sie in entschiedenem Ton.
Gilarra sah zunächst das Kind und dann Seriema an. »Ich bin gekommen, um dir einen Gefallen zu erweisen.« Sie machte sich Seriemas Erstaunen zunutze und fuhr rasch fort: »Du nimmst dir keine Zeit für Männer, Seriema. Nicht nur, dass du jede Stunde, die Myrial uns sendet, mit Arbeit verbringst, du willst auch nicht, dass irgendein stümperhafter Lebensgefährte sich in deine geschäftlichen Angelegenheiten einmischt. Jedoch hast du dabei die Zukunft nicht berücksichtigt, meine Liebe – ein ungewöhnliches Versehen für eine so kluge Frau.« Sie lehnte sich vor und legte Seriema eine Hand auf den Arm. Seriema fuhr zusammen und schreckte vor der Berührung zurück. Sie war es nicht gewohnt, dass sie jemand anfasste, dabei wurde ihr unbehaglich zumute.
Gilarra zog die Hand ohne
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