Der Schattenbund 01 - Das Herz von Myrial
müssen, blieb ihr doch eine Genugtuung: jene Zeitgenossen, die sie nicht mochten, mussten ihr doch Respekt erweisen – und ließen sie es daran einmal mangeln, lehrte Seriema sie das Fürchten. In sehr kurzer Zeit hatte sie sich an die Spitze gekämpft – in ihres Vaters Stellung als Oberhaupt der Handelsvereinigung und des Bergbaukonsortiums. Dort beabsichtigte sie zu bleiben, trotz aller Rückschläge, die sie zurzeit wegen des Wetters einstecken musste.
Ihre Augen begannen zu schmerzen. Während sie sich mit den schwarzseherischen Berichten der Gutsverwalter, mit den schrumpfenden Bestandslisten der Lagerhäuser und den armseligen Handelserlösen befasst hatte, war es draußen dunkel geworden. Das musste sie nun zur Kenntnis nehmen. Ein energisches Klopfen an der Tür ließ sie von den eng beschriebenen Seiten aufschauen. Sie seufzte ärgerlich, und Presvel trat ins Zimmer. Er trug in der einen Hand eine Tasse Tee herein, und in der anderen eine Lampe, die scharfe, unheimliche Schatten auf sein rundes gut gelauntes Gesicht warf und die Tatsache buchstäblich im Dunkeln ließ, dass sich sein dunkles lockiges Haar über der Stirn bereits lichtete. Obgleich er die Tasse vorsichtig und langsam balancierte, gelang es ihm, den üblichen Anschein emsiger Geschäftigkeit zu erwecken. »Herrin, sieh dich an«, schalt er sie, »schon wieder hast du es getan. Ich weiß, dass es niemandem gestattet ist, zu stören. Aber du vergisst immer, dir eine Kerze anzuzünden. Wenn du im Dunkeln arbeitest, verdirbst du dir die Augen!«
Seriema, so ärgerlich sie auch über die Unterbrechung war, nahm sie doch die Schelte geduldig hin. Sie hielt nichts davon, Bedienstete zu rügen, wenn sie Recht hatten. Außerdem war Presvels Gluckengehabe, auch wenn sie das niemals zugegeben hätte, die einzige männliche Zuneigung, die sie in ihrem einsamen Leben erfuhr.
»Bitte sehr – eine gute Tasse Tee«, sagte Presvel und stellte zunächst die Lampe auf eine freie Ecke des überfüllten Schreibtischs und fegte sodann einen Stapel Papiere beiseite, um vor Seriema Platz für die Tasse zu schaffen. Seriema unterdrückte ein Lächeln. Sie wusste, dass die großspurige Geste nicht so maßlos war, wie sie erschien. Ihr Diener war – inzwischen – zu geschickt, um ihre Arbeit durcheinanderzubringen. Wenn sie sich ihren Papieren wieder zuwandt, würde sie jedes Blatt an seinem Platz finden.
»Er sollte getrunken werden, solange er noch heiß ist – wenn überhaupt irgendetwas länger als ein paar Augenblicke heiß bleiben kann in dieser zugigen Scheune, die du als Haus benutzt.« Presvel stellte die Tasse mit einer schwungvollen Bewegung vor sie hin. »Ich bin sicher, dass du bereits ganz gehörige Kopfschmerzen hast – und das geschieht dir recht, wenn du den ganzen Tag in einem fort nur arbeitest. Ich habe es oft genug gesagt, dass man sich hin und wieder ausruhen muss …« Während seiner Vorhaltungen bewegte sich Presvel pausenlos durch das Zimmer und zündete die Öllampen und die Kerzen in den Wandleuchtern an. Wie immer ließ Seriema den endlosen Redefluss über sich ergehen und genoss es, wie er die düstere Stille aus ihrem Arbeitszimmer vertrieb.
Nach einer kurzen Weile ging er hinaus, und Marutha, die Haushälterin, kam herein, um nach dem heruntergebrannten Feuer zu sehen. Im Hinausgehen brachte Presvel die alte Frau mit einem Blick zum Schweigen, als sie gerade zu einer Schimpftirade ansetzen wollte. »Es ist gut, Marutha«, sagte er, »du brauchst dich nicht zu bemühen. Die Herrin und ich haben die Frage des Überarbeitens und des Augenverderbens gerade eingehend behandelt.«
Marutha starrte ihm hinterher, dann kniete sie sich am Kamin nieder und murmelte etwas von ›gewissen Leuten‹, die sich für ›oberschlau‹ hielten. Seriema nippte dankbar an dem heißen Tee – der selbstverständlich noch heiß war, entgegen Presvels trübseliger Voraussage – und beschloss, Marutha nicht zu beachten. Sie streckte sich behaglich aus, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und drückte die Ellbogen zurück, um die Anspannung zwischen Schultern und Nacken loszuwerden. Ihr brannten die Augen. Sie musste vor sich selbst zugeben, dass Presvel Recht hatte. Ihre Sehkraft hatte bereits nachgelassen, und wenn sie so weiter machte, würde sie sich tatsächlich noch die Augen verderben. Sie sollte sich entspannen und eine Weile ausruhen – all ihre Sorgen vergessen …
Natürlich konnte die stille Besinnung nicht lange anhalten. Die
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