Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
komme sehr gern. Um die Wahrheit zu sagen, hat mir davor gegraut, in dem kalten leeren Haus allein zu sein. Wie die Dinge jetzt liegen, wäre mir etwas Gesellschaft sehr willkommen.«
»Sogar unsere?« Veldan zog die Brauen in die Höhe.
»Ich kann es aushalten, wenn ihr es könnt. Ich gehe nur schnell und ziehe mir etwas Sauberes an, dann bin ich gleich bei euch.«
Toulac wäre überrascht gewesen zu erfahren, dass Zavahls Beurteilung seines Gefängnisses ihrer sehr ähnlich war, trotz der Tatsache, dass eine Wache auf dem Flur vor seiner Tür stand und eine zweite draußen im Hof unter seinem Fenster, vermutlich für den Fall, dass er einen Sprung wagen sollte. Er mochte ein Gefangener sein, aber die Gefangenschaft hatte ihre Vorteile. Er fühlte sich unvergleichlich gut nach dem Bad, und die saubere Kleidung war ihm von einer hübschen und heiteren jungen Frau gebracht worden. Später hatte er von ihr ein kräftiges Mittagsmahl bekommen. Er hatte sich mit enormem Appetit darüber hergemacht und es bis zum letzten Bissen aufgegessen. Es war so lange her, dass er beim Essen irgendeinen Genuss verspürt hatte, und keine der eigens für den Hierarchen kunstvoll zubereiteten Speisen hatte ihm so gut geschmeckt wie diese.
Jetzt saß er am Fenster seines Zimmers, trank einen großen Becher Bier und ließ sich wohlig wie eine Katze die Herbstsonne auf den Pelz scheinen. Ach, die Sonne! Vielleicht war sein Traum doch wahr, und Myrial zürnte ihm nicht, da er ihn an diesen schönen Ort geführt hatte. Sein Fenster an der Rückseite des ›Greifen‹ blickte auf einen sauber gepflasterten Hof, der von Ställen und Nebengebäuden umgeben war, die aus demselben hellen Stein gebaut waren wie der Gasthof selbst. Er konnte den Zipfel eines Gemüsebeetes erkennen und eine Wäscheleine mit weißen Laken, die geräuschvoll im Wind flatterten. Das war so ganz anders als der seelenlose Stein seiner öden Gebirgsstadt. Die Luft war frisch und würzig, ohne die kalte, alles durchdringende Feuchtigkeit von Callisiora. Er roch das saubere Stroh und die Pferde und den erdigen Geruch des herbstlichen Waldes.
Zavahl stand vom Fenster auf und betrachtete von neuem sein behagliches Zimmer. Die Wände waren mit Holz verkleidet, für Helligkeit und Farbe sorgten eine bestickte Tischdecke, eine fröhliche Flickendecke auf dem Bett, blaue und rote Kissen auf dem Sessel am Kamin und ein bunter Webteppich auf dem Boden. In einem Messingkrug auf dem Tisch stand ein Strauß Herbstblumen und loderte mit dem Feuer um die Wette. An der dunklen Holzwand schien hell wie eine Sonne ein großer Messingteller mit einem Emailbild, auf dem ein Pfau dargestellt war.
Nach dem letzten Schluck Bier legte er sich bequem auf das Bett. Ihm war seltsam leicht ums Herz. In jüngster Zeit waren so viele schreckliche Dinge geschehen, dass es gut tat, für eine Weile friedlich zu ruhen. Tagelang, so schien es, war er von heftigen Gefühlen zerrissen worden: Zorn und Schrecken, Bitterkeit, Trübsal und Verzweiflung. Niemand könnte so starke Empfindungen unbegrenzt aushalten. Es kam ihm so vor, als ob er an diesem friedlichen Ort – wo immer er auch liegen mochte – mit Leib und Seele seinem Schicksal zustimmte und seine Gereiztheit und Auflehnung aufgegeben hätte. Sogar der Dämon schien ihn verlassen zu haben; jedenfalls hoffte er das. Seit er gestern mit Elion gesprochen hatte, hatte er den Eindringling weder gespürt noch gehört. Hatte es ihn wirklich gegeben? Oder war alles nur seiner Einbildung entsprungen? Nein, Veldan hatte ihn erwähnt, als sie in der Schutzhöhle auf ihn eingeredet hatte. Nach ihrer Behauptung konnte der Dämon nicht aus ihm heraus.
Sollte ich versuchen, mit ihm zu sprechen?
Er wollte nicht. Die Vorstellung, ein fremdes Wesen im Kopf zu haben, machte ihm noch immer furchtbare Angst. Solange der Plagegeist sich still verhielt, konnte er wenigstens so tun, als gäbe es ihn nicht.
Ich werde auf Elion warten. Ich kann damit nicht allein fertig werden.
Gerade jetzt wollte Zavahl nicht, dass jemand die Ruhe störte, die ihn umgab. Natürlich war er ein Gefangener, und Myrial allein konnte wissen, welche Schrecken ihn hier noch erwarteten. Denn warum sonst hätte Elion ihm die Augen verbinden sollen? Er wusste, dass er sich vor dem Kommenden fürchten sollte, und trotzdem fühlte er sich losgelöst und unwirklich und unfähig, sich Sorgen zu machen. Es war geradezu, als wäre er tatsächlich im Opferfeuer gestorben und zu einem neuen
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