Der Schattenbund 02 - Der Geist des Steines
Arme. So schmerzvoll das einerseits war, es gab ihm ein-, zweimal die Gelegenheit zum Luftholen. Der Steg war seine einzige Hoffnung gewesen und würde ihm nichts mehr nützen. Er war nun sicherlich ebenfalls unter Wasser.
Das war’s. Ich werde sterben.
Scall wurde schwindlig vor Atemnot. Er konnte nicht mehr länger die Luft anhalten. Obwohl das in der Dunkelheit gleichgültig war, schloss er die Augen. Während die Strömung ihn um und um drehte, erwartete er das Ende.
Es kam nicht – sondern etwas anderes. Etwas Schmales, Hartes traf ihn, rammte sich in seinen Körper, dass es ihn fast zerriss, und beendete seine Talfahrt. Er fand sich mit dem Gesicht an die Decke gedrückt, wo ein paar Zoll Luft übrig waren.
Was in Myrials Namen ist passiert?
Dankbar sog Scall die Luft ein. Soweit er das in der Dunkelheit feststellen konnte, schien er zwischen der Decke und einer waagerechten Eisenstange eingeklemmt zu sein, einer Art Querstrebe, die von Wand zu Wand verlief. Die Strömung hielt ihn an Ort und Stelle, wenigstens fürs Erste. Ganz vorsichtig verbesserte er Zoll für Zoll seinen Halt, indem er die dünne Stange rittlings mit den Beinen und dann mit den Armen umklammerte, sodass er sie sicher erstickt hätte, wenn sie aus Fleisch und Blut gewesen wäre. Es sagte viel über seine Lage, dass er diese Haltung nun beinahe bequem fand. Einen Augenblick lang blitzten Bilder seiner Lehrzeit bei Tante Agella in seinem Gedächtnis auf, und er wunderte sich, worüber er sich in dieser glücklichen Zeit überhaupt beklagt hatte.
Dann merkte er, dass das Wasser weiter anstieg und ihm ein neues Dilemma bescherte. Sollte er weiter an seiner Stange festhalten und hoffen, dass die Flut die Decke nicht erreichte und ihn ertränkte, oder sollte er loslassen und darauf hoffen, aus dem Tunnel herausgeschwemmt zu werden? Und aller Wahrscheinlichkeit nach über den Klippenrand zu fliegen? Auf gar keinen Fall! Scall beschloss, genau da zu bleiben, wo er war. Er würde nur die Luft anhalten müssen und beten.
Der nächste Schwall traf ihn, riss ihn mit und drückte ihn fast von der Stange. Scall griff hastig zu und strampelte wild, um in seine Ausgangslage zurückzukommen. Doch die heftigen Bewegungen waren ein Fehler. Die Querstrebe bewegte sich, drehte sich um ihre Achse und hätte ihn fast abgeworfen. Über sich hörte er ein lautes Knirschen wie von zwei mahlenden Mühlsteinen. Scall, der sich weiter entschlossen festhielt, erstarrte zu Stein. Hatte die Sturzflut mehr Schaden angerichtet, als er zunächst für möglich gehalten hatte? Stand der Tunnel kurz vor dem Einsturz?
Dann bemerkte er auf einmal, dass er etwas sehen konnte. Unter ihm raste das Wasser in Schwindel erregenden Wirbeln vorbei, und er sah sich gehetzt um. Woher kam das Licht? Angestrengt bog er den Hals, sodass er sehen konnte, was über ihm war.
»Heiliger Myrial!«
In der Decke hatte sich ein Loch aufgetan, rund wie eine Pupille. Die perfekte Rundung spaltete sauber und glatt den Stein und bildete eine Röhre, die aufwärts durch den Fels ging. Ein schwaches, dunstiges Licht fiel durch diesen neuen Tunnel. Es war kühl wie Mondlicht, doch wechselte es unablässig die Farbe und erschien in Blau und Rot, Gelb, Grün, Violett und schimmerndem Weiß. Falls von oben irgendein Geräusch kam, so ging es in dem hohlen Rauschen des langsam ansteigenden Wassers unter. Warme Luft wehte von oben herab und brachte einen fremdartigen, frischen, teils würzigen, teils sauren Geruch mit, der ihn an die Ätzmittel in der Schmiede erinnerte. Er kitzelte ihn in der Nase, und Scall hatte Mühe, nicht zu niesen.
Und was mache ich jetzt?
Scall sah zu, wie das Wasser ihn umspülte und ihn in jedem Augenblick mitzureißen drohte. Dann blickte er wieder nach oben. Eine robuste Leiter aus einem dunklen, glänzenden Metall, die keinerlei Rostspuren zeigte, stieg die Röhre empor und verschwand in dem dunstigen Licht. Scall spürte einen Kloß im Magen, als er sich vorstellte, wie er hinauf ins Unbekannte kletterte – doch die andere Möglichkeit gefiel ihm noch viel weniger. Er plante jede Bewegung mit äußerster Sorgfalt und erreichte die unterste Sprosse, umfasste sie mit der zweiten Hand, dann zog er seinen zitternden Körper aus dem Wasser. Für eine Weile hing er am Fuß der Röhre, ruhte sich aus, raffle neuen Mut zusammen, um sich weiter aufwärts zu bewegen. Wenn er sich zu lange ausruhte, würde er keine Kraft mehr haben, um überhaupt noch zu klettern. Noch einen
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