Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
dummer Einfall.«
Galveron hob einen Kiesel auf und schleuderte ihn ins Wasser. »Weißt du, die ganze Zeit über, wo wir in den verfluchten Gängen unterwegs waren, habe ich mir lang und breit wiederholt, was ich alles zu dir sagen würde. Doch am Ende läuft es alles auf eine Frage hinaus: Warum?«
Aliana nahm allen Mut zusammen und sah ihm geradewegs in die Augen. »Warum ich den Ring gestohlen habe? Weil du ihn dir nicht genommen hättest«, sagte sie leise. »Du bist Gilarra so entsetzlich ergeben, aber jeder außer dir kann sehen, dass sie ihrer Aufgabe nicht gewachsen ist. Sie wendet sich immer den falschen Dingen zu, es scheint, sie kann weder sich selbst noch andere beherrschen, sie weiß überhaupt nicht, wie man Menschen Mut macht, ihnen das Gefühl gibt, dass sie wichtig sind – eher im Gegenteil. Sie glaubt immer, es sei unter ihrer Würde, danke zu sagen. Wenn du nicht gewesen wärst, sie hätte nicht einmal die erste Nacht überstanden, und die übrigen Flüchtlinge auch nicht. Ich wollte dich zu der Einsicht bringen, dass du die Verantwortung übernehmen musst – wenigstens so lange, wie die Not anhält. Bei der Lage im Tempel braucht es den sachlichen Verstand eines Feldherrn, nicht den eitlen eines Oberpriesters. Wenn ich zu dir gesagt hätte, du sollst die Sache übernehmen, hättest du mir nicht zugehört – entweder das oder du hättest dich über mich lustig gemacht oder mir gesagt, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Du solltest dadurch begreifen, wie ernst es mir damit ist. Darum dachte ich, ich gehe in die Tunnel und verstecke den Ring – um ihn als Pfand zu benutzen, bis Gilarra einwilligt, zurückzutreten, und du bereit bist, uns alle zu führen. Es wäre ja nicht nur meinetwegen, weißt du. Außer vielleicht den Priestern hättest du den gesamten Tempel hinter dir.«
Der Hauptmann schüttelte den Kopf. »Und was ist mit der Strafe, die auf Stehlen steht, du kleine Närrin?«
»Du konntest mir kaum etwas anhaben, da ich als Einzige gewusst hätte, wo der Ring ist.«
Er seufzte. »Dir vielleicht nicht. Aber wenn nun ich oder Gilarra beschlossen hätte, deine Freunde zu foltern, bis du ihn zurückgibst?«
Das traf sie wie ein Schlag. Aliana blieb der Mund offen stehen. »Das – das hättest du doch nicht getan, oder?«
»Du kannst nicht wissen, was ich getan hätte«, sagte Galveron streng, »und überdies wusstest du nicht einmal, was du selber tust. Das war das hirnloseste, unüberlegteste, sinnloseste Unternehmen, von dem ich je gehört habe, und es war von Anfang an zum Scheitern verurteilt.«
Aliana fühlte sich sehr klein. Sie ließ den Kopf hängen. »Das weiß ich jetzt«, gab sie zu. »Ich hatte wirklich nicht die Zeit, um die Sache richtig zu durchdenken. Ich wusste, Gilarra würde den Ring bald zurückverlangen, und es war nur ein glücklicher Zufall, dass ich ihn überhaupt hatte. Es kam mir vor wie ein Wink des Schicksals …« Sie schluckte mühsam. »Aber als ich dann einmal in den Tunneln war, gab es kein einziges Versteck für das dumme Ding, und darum lief ich immer weiter und wagte auch nicht zurückzugehen, und inzwischen war auch Packrat in die Sache hineingeraten, und alles lief so aus dem Ruder …« Sie merkte, wie ihre Stimme zu zittern begann, und schluckte wieder. Auf gar keinen Fall würde sie vor seinen Augen weinen!
Er legte einen Arm um ihre Schultern. »Nun, es ist jetzt vorbei, und Helverien sagt, wenn uns rechtzeitig jemand findet, dann hast du das einzige Mögliche zur Rettung Callisioras getan.«
»Aber wenn sie uns nicht finden?«, fragte Aliana unglücklich. »Oder wenn uns jemand gefolgt ist und in dieselbe Falle tappt wie du und Alestan?«
Galveron seufzte. »Ich weiß es nicht. Aber mach dir keine Sorgen. Wir finden einen Ausweg.«
Ein wenig abseits der Siedlung, um das nördliche Ende des Sees herum, auf der anderen Seite gegenüber des bewaldeten Hanges, wo die Wissenshüter wohnten, und einige hundert Schritte vom Dorf und der Mühle entfernt, stand ein verlassenes Haus. Vor etwa zehn Jahren hatte es der älteste Sohn des Müllers gebaut, dessen wachsende Kinderschar – seine Frau gehörte zu jenen stets vergnügten und fruchtbaren, die jedes Jahr ein Kind zur Welt bringen – ihn zwang, aus der Mühle auszuziehen und sich in einem größeren Haus einzurichten. Der Platz, den er dafür aussuchte, erwies sich jedoch als unglücklich. Es war hübsch dort, am Rand des Wassers, aber im zweiten Winter nach
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