Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
Die Zeit ist wie im Flug vergangen.« Als Veldan sich in Marsch setzte, zögerte er. »Veldan – meinst du wirklich, dass ich hierher passe?«
Sie kehrte noch einmal um und nahm seine Hand. »Ich meine, dass du sogar ausgezeichnet hierher passt.«
Annas hatte Angst vor Presvel, und nicht nur das: sie verabscheute ihn. Er war grob mit ihr umgegangen, hatte ihr mit dem Messer weh getan, hatte Rochalla geschlagen – und das Schlimmste von allem, er hatte sie von ihrem Papa getrennt. Er war ein böser Mann, genau wie die bösen Männer, die ihre Mama getötet hatten. Ihr Instinkt riet ihr, sich sehr still zu verhalten. Sie saß schlaff im Sattel und tat, als schliefe sie. Wenn sie nichts machte oder sagte, so überlegte sie, würde er vielleicht vergessen, dass sie da war, und ihr nicht weh tun.
Hin und wieder linste sie unter den Wimpern hervor zu Rochalla hinüber. Sie war mit Pferden aufgewachsen und geritten, bevor sie laufen konnte, darum sah sie, dass das Mädchen vom Reiten nicht das Geringste verstand. Rochalla saß falsch und rutschte im Sattel, weil sie sich mit den Beinen nicht richtig festhielt. Sie sah unglücklich und ängstlich aus. Annas wollte ihr gern helfen und sagen, was sie verkehrt machte, aber dann würde Presvel vielleicht ärgerlich werden, und das wollte sie nun ganz und gar nicht. Nur zu gut hatte sie noch vor Augen, was der andere böse Mann mit ihrer Mama gemacht hatte. Wenn nun dieser hier das Gleiche mit Rochalla täte – oder mit ihr?
Der Regen ging in große, nasse Schneeflocken über, und Annas hatte keinen Mantel. Sie fror, sie war müde und hungrig und hatte Angst und wurde jeden Augenblick nasser, und sie wünschte sich, ihr Papa wäre bei ihr. Er würde nicht zulassen, dass Presvel ihr etwas tat. Wo war er? Warum war er nicht da? Warum hatte er nicht verhindert, dass der böse Mann sie erwischte? Aber er würde bestimmt kommen. Seltsamerweise wäre es jetzt sogar tröstlich, die Dame Seriema um sich zu haben. Sie benahm sich immer ein bisschen mürrisch, aber sie war gar nicht so übel, eigentlich, und sie würde sich von Presvel nichts gefallen lassen. Sie konnte ihm befehlen – Annas hatte schon gesehen, wie sie das machte.
Mein Papa wird kommen. Er muss kommen. Ich brauche jetzt nur auf Rochalla aufzupassen, bis er hier ist, und so lange darf mich der böse Mann nicht kriegen. Dann wird alles wieder gut.
Wenn sie natürlich irgendwie wegrennen könnte, wäre das noch besser. Wahrscheinlich würde es nicht dazu kommen, aber sie war entschlossen, wachsam zu bleiben. Wenn eine Gelegenheit zum Wegrennen käme, sollte sie sie nicht vergeuden.
Presvel begann tatsächlich zu hoffen, dass er ungeschoren davonkam. Es wurde schon dunkel, und bisher gab es keine Anzeichen für eine Verfolgung. Zwar war er nicht so unvernünftig zu glauben, dass Tormon und die Rotten nicht hinter ihm waren, aber wenn er genügend Abstand hielt, könnte er Scalls Tunneleinstieg erreichen, bevor sie seine Absicht bemerkten. Dort waren die fliegenden Bestien keine Bedrohung mehr, und dort könnte er auch die Verfolger endgültig abschütteln.
In den Tälern war es bereits dunkel, aber am Abendhimmel schien noch ein Rest Tageslicht. Voraus sah man das Gebirge aufragen, wo sich der Gipfel des Chaikar stolz über die anderen Berge erhob, als Warnung und Wegweiser gleichermaßen. Da es nun dunkel war und er der Stadt immer näher kam, begann er sich doch wegen der reißenden Vögel Sorgen zu machen. Ein- oder zwei Mal meinte er in der Ferne einen grellen Schrei zu hören, aber da er im Hinblick auf die Natur völlig unwissend war, mochte es auch der Schrei einer Eule oder eines anderen harmlosen Nachttiers gewesen sein. Der Wind wehte nun auch schärfer und pfiff über die kahlen Vorberge, sodass alle anderen Geräusche darin untergingen.
Während das Gebirge näher rückte und die Hänge steiler und zerklüfteter wurden, verdichtete sich der Schneefall. Die Flocken blieben nicht liegen, sondern sanken in den morastigen Boden und verschwanden. Nun hingen auch die Wolken tiefer, und es wurde immer schwieriger, etwas zu sehen, doch ein Licht anzuzünden wagten die Flüchtigen nicht. Zudem waren die beiden Pferde erschöpft, immerzu strauchelten sie auf dem schlüpfrigen Grund. Als sie vor einigen Tagen aus der Stadt geflüchtet waren, ließ Tormon die Pferde hin und wieder ausruhen, hieß alle absteigen und sie eine Weile am Zügel führen. Doch Presvel war nicht begierig darauf zu Fuß zu
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