Der Schattenbund 03 - Das Auge der Unendlichkeit
reichlich beschäftigt und habe nicht aufgepasst, was sonst noch mitgenommen wurde, sonst hätte ich es dir schon früher gemeldet.«
»Mitgenommen?«, wiederholte Galveron scharf. »Was meinst du damit?«
Von der Schärfe des Hauptmanns gewarnt, zögerte Telimon mit der Antwort. Seit dem Tod seines Zwillingsbruders war er sichtlich gealtert, fand Gilarra. Die Rundlichkeit seiner Erscheinung schmolz dahin, und seine gestutzten blonden Locken hatten ihren Glanz eingebüßt. Seine Haut war grau, die Schultern eingefallen, und das lustige Zwinkern war ebenfalls verschwunden. »Ich habe gerade die Vorräte überprüft, als ihr hereinkamt«, sagte er. »Ich weiß ganz sicher, dass das elende Ding etwas Käse genommen hat, und von den Blechkuchen, die wir als Brotersatz gebacken haben, auch einige Pasteten und einen kleinen Beutel Nüsse. Ich kann noch nicht sagen, ob sonst noch etwas fehlt, Galveron«, fügte er gereizt hinzu. »Wir können solche Diebereien nicht zulassen. Das bringt unser aller Leben in Gefahr.«
»Ich schicke dir zwei Wachen«, sagte der Hauptmann nachdenklich. Gilarra sah wohl, dass ihn die Neuigkeit schwer getroffen hatte. Er war vollkommen weiß im Gesicht, und die erst halb verheilte Narbe stach bläulich dagegen ab. Aber er steckte in einer selbst gemachten Klemme. Die Hierarchin wusste, dass er Aliana gern mochte, doch er selbst hatte die Vorschrift aufgestellt, dass jeder, der im Tempel beim Stehlen erwischt würde, ohne Widerrede hinauszuwerfen war.
Gilarra war jedoch zu sehr mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt, um sich über Galverons Not Gedanken zu machen. Wenn Aliana sich so viel Essen genommen hatte, dann hatte sie die Absicht, nicht gefunden zu werden – wenigstens für eine beträchtliche Zeit. Als Gilarra begriff, was das Verschwinden des Mädchens für sie bedeutete, fühlte sie eine Woge des Zorns über sich hinwegschwappen.
Fluch über sie! Das ist ein Angriff gegen mich, ich weiß es. Sie rächt sich dafür, dass ich ihren Bruder eingesperrt habe. Ganz gleich, was Galveron sagt, ich hätte diesem dreckigen, diebischen, verräterischen Miststück aus dem Labyrinth niemals trauen dürfen! Wenn ich die in die Finger kriege, braucht Galveron sie gar nicht hinauszuwerfen. Ich werde sie eigenhändig erwürgen! Aber was steckt dahinter? Welchen Plan verfolgt sie? Und was noch wichtiger ist: Wo in Myrials Namen kann sie sein?
Inzwischen schien Galveron sich gefasst zu haben. »Komm«, sagte er grimmig. »Wir wollen zu Alestan gehen und mit ihm reden. Vielleicht fällt ihm ein, wo sie sich versteckt.«
Alestan saß in einem der Gewölbe, das hastig in eine Zelle verwandelt worden war. Er versuchte soeben, die Finger unter den Schienenverband zu schieben und sich die juckende Haut zu kratzen, als sein Gespür für nahende Gefahren, das er über die Jahre mit ständigem Wegducken und Verstecken entwickelt hatte, ihn aufhorchen ließ. Er hörte Leute kommen, und sein Zorn flammte auf, weil er Gilarra darunter erkannte, zugleich hüpfte ihm das Herz in der Brust beim Klang von Galverons Stimme. Endlich Nachricht von Aliana! Er war vor Sorge fast verrückt geworden, weil sie so lange fort geblieben war. Die Tür öffnete sich, und die beiden kamen herein. Alestan brauchte nur einmal in ihre Gesichter zu sehen – in Gilarras Gewittermiene und das sorgenvolle Stirnrunzeln des Hauptmanns – und er wusste, dass noch mehr Schwierigkeiten auf ihn warteten, als er ohnehin schon hatte. Er sprang auf. »Was ist mit Aliana? Geht es ihr gut?«, fragte er.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Galveron, »sie ist wohlbehalten zurückgekehrt.«
Alestan wusste sofort, dass Galveron ihm auswich. »Wo ist sie?«, wollte er wissen. »Was hast du mit ihr gemacht, du Bastard? Sag es mir, oder ich werde -«
»Du bist nicht in der Lage, uns zu drohen oder Forderungen zu stellen«, konterte Gilarra. »Deine Gaunerbande hat mehr als genug Scherereien. Wenn ihr weiterhin in diesem Tempel bei anständigen Leuten unterschlüpfen wollt, schlage ich vor, dass du dich als nützlich erweist und uns sagst, wo deine Schwester sich versteckt halten könnte.«
»Aliana? Versteckt?« Einen Augenblick lang glaubte er nicht recht gehört zu haben. »Warum zum Teufel sollte sie sich verstecken?«
»Weil sie ein diebisches kleines Biest ist«, fauchte die Hierarchin.
Alestan sank der Mut. Diese Zuflucht hatte sich schon als armselig genug erwiesen, wie hatte Aliana es geschafft, nun auch noch den Zorn der mächtigsten
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