Der Schattenjäger (German Edition)
schon besser«, lobte ihn sein Großvater. Doch als Sascha aufstehen wollte, um den Schal in der Schublade mit dem
Elija-Becher
und den übrigen kleinen Familienschätzen zu verstauen, hob der Großvater abwehrend die Hand.
»Heute Morgen«, sagte der alte Mann nach einer bedeutungsvollen Pause, »haben wir einen ganz eigentümlichen Abschnitt aus der Thora gelesen.«
»Wirklich?«
»Nun, worum ging es? Ich meine den tieferen Sinn, nicht die oberflächliche Bedeutung.«
»Aber Großvater, du weißt doch, dass das nicht meine Stärke ist. Erinnerst du dich noch, welche Mühe ich hatte, meine
Bar-Mizwa
anständig zu überstehen?«
»Unfug, du bist ein Spätentwickler, weiter nichts.«
»Also gut. Ich vermute mal, es ging um Vergebung.«
»Ganz genau! Das ist eine Stelle, die man als passende Lektüre für das Versöhnungsfest erwarten würde. Tatsächlich stehen wir aber am Winterende, wir denken schon an den Frühjahrsputz und bald an das
Pessach
fest. Dabei fällt mir ein, dass ich dieses Jahr an Pessach mehr über Vergebung sprechen sollte.«
»Ich hätte nicht gedacht«, sagte Sascha, »dass an einem Feiertag, wo wir uns daran erinnern, dass Gott unsere Feinde mit Frosch- und Geschwürplagen straft, viel von Vergebung die Rede sein könnte.«
»Aber natürlich! Und je älter du wirst, desto besser wirst du es verstehen. Vergebung gehört zum Grundstein unseres Glaubens. Die Christen glauben, ihr Gott könne die Sünden der Menschen fortwaschen. Wenn wir Juden uns aber an anderen Menschen versündigen, müssen wir uns erst mit dem versöhnen, dem wir Unrecht getan haben, ehe wir hoffen dürfen, auch Vergebung bei Gott zu finden. Wir sind alle unseres Bruders Hüter, verstehst du? Unsere unsterblichen Seelen liegen in den Händen unserer Mitmenschen, denn wer kann durch dieses Leben gehen, ohne dass er es nötig hätte, zu vergeben … und Vergebung zu erhalten? Und nun sei bitte so gut und hol mir etwas zu trinken.«
Sascha ging durch das schräg einfallende Nachmittagslicht in die Küche und schöpfte aus dem Eimer, über den seine Mutter stets ein sauberes Baumwolltuch legte, ein Glas Wasser.
Rabbi Kessler murmelte das entsprechende Gebet und trank in langen Zügen. »Ah!«, sagte er aus tiefster Seele, »gibt es etwas Besseres als ein Glas Wasser, wenn man durstig ist? Wo war ich doch stehen geblieben?«
Sascha hegte die stille Hoffnung, sein Großvater könnte das Thema ihrer Unterredung vergessen haben, doch da hatte er sich getäuscht.
»Ach ja. Vergebung. Die Rabbis der alten Zeit waren von der Macht der Vergebung so überzeugt, dass sie, wenn jemand ihnen Unrecht getan hatte, Vorwände erfanden, um sich in der Nähe des Betreffenden aufzuhalten und mit Zeichen an dessen Sünde zu erinnern. Nicht etwa, um ihm ein schlechtes Gewissen zu bereiten, sondern um ihm die Gelegenheit zu geben, seinen Fehler einzugestehen und um Vergebung zu bitten.« Rabbi Kessler lächelte müde. »Leider bin ich nicht so geduldig wie die Rabbis der alten Zeit und es allmählich leid, mich jede Woche zu ermahnen, meine Tefillin zu vergessen. Und noch mehr bin ich es leid, dass es meinen einzigen Enkelsohn fast umbringt, eine halbe Stunde mit mir zusammenzusitzen. Deshalb frage ich dich: Welchen Zauber hast du gesprochen, als du vergangenen Sommer meine Tefillin und meine Bücher genommen hast?« Sie saßen sich gegenüber, die Gesichter kaum eine Handbreit voneinander entfernt, und schauten sich an.
»Lüge mich nicht an«, ermahnte ihn sein Großvater sanft. »Was du auch getan hast, es gibt nichts, was ich dir nicht verzeihen könnte. Aber wenn du mich anlügst, dann brichst du einem alten Mann das Herz.«
Da atmete Sascha tief durch und erzählte ihm alles. Er erzählte ihm, wie er den Dibbuk herbeibeschworen hatte, weil er wütend auf Lily war und weil er unbedingt beweisen wollte, dass es nicht sein Dibbuk war. Dass er mit der Kreatur gekämpft hatte, diese aber mit jeder Minute des Kampfes kräftiger zu werden schien. Und Sascha erklärte, wie Morgaunt ihm den Mord an Edison in die Schuhe schieben wollte und wie der Dibbuk Antonios Vater getötet hatte und dann beinahe Antonio selbst umgebracht hätte, als dieser seinen Vater rächen wollte.
Rabbi Kessler sackte unter der Last der schrecklichen Erzählung immer weiter in sich zusammen. »Das ist sehr schlimm«, befand er, als Sascha schließlich fertig war. »Dieses Wesen hat vielen Menschen geschadet und wird, fürchte ich, noch vielen weiteren schaden. Du
Weitere Kostenlose Bücher