Der Schattenjäger (German Edition)
auch eine nützliche Besessenheit, die er
Ibbur
nennt. Luria und mit ihm Kabbalisten vieler Jahrhunderte haben nach Ibbur gestrebt, sei es durch Gebet, Fasten oder Meditation und manchmal gar durch das Schlafen auf heiligen Gräbern. Dieser Glaube setzt sich auch unter vielen gewöhnlichen Juden fort, die ihrem Nachwuchs den Namen eines verstorbenen Verwandten geben, weil sie hoffen, dessen gute Eigenschaften in ihrem Kind wiedergeboren zu sehen.«
»Aber was nützt mir das?«, fragte Sascha. »Das ändert doch nichts!«
»Aber natürlich! Morgaunt mag diesen besitzergreifenden Geist herbeigerufen haben, aber nur Zauberer können Golems und andere irdische Kreaturen entstehen lassen. Und eine
Seele
kann nur von Gott erschaffen werden, denn jede Seele erfüllt einen bestimmten Zweck in der Schöpfung. Morgaunt wird solches Wissen nie erlangen, aber es gehört zum Geburtsrecht jedes Kesslers, der je diesen Kelch am
Seder
abend des Pessachfestes erhoben hat. Morgaunt mag sich einbilden, der Dibbuk sei sein Geschöpf. Du aber weißt jetzt, dass eine Seele nur sich selbst und Gott gehört. Wenn du das beherzigst, wenn du dir klarmachst, dass der Dibbuk kein Fluch ist, der über dich gekommen ist, sondern ebenfalls ein Kind Gottes mit einem eigenen Lebenszweck, dann wird er dich niemals ganz einnehmen können.«
Sascha betrachtete den silbernen Kiddusch-Kelch, der im fahlen Wintersonnenlicht schimmerte. Er spürte, dass sein Großvater ihn anschaute, doch er vermied den Blick des alten Mannes. »Hat das jemals geklappt?«, fragte Sascha. »Ist es jemals einem Menschen gelungen, sich von einem Dibbuk zu befreien?«
»Nicht, dass ich wüsste«, sagte Rabbi Kessler in seinem gewohnt aufgeräumten Ton. »Doch das soll dich nicht entmutigen.«
»Wolf möchte, dass ich zaubern lerne. Zu meinem Schutz.«
»Er hält das sicherlich für eine gute Idee.«
»Aber du willst mir das Zaubern nicht beibringen.«
»Doch, doch. Wenn du verheiratet und vierzig Jahre alt bist!«
»Na, vielen Dank.«
»Nun macht nicht so ein Gesicht, Sascha. Menschen ist schon Schlimmeres passiert, nicht oft, aber dennoch. Ich werde mit Mo darüber reden und seine Meinung hören. Gewisse Sachen können wir auch einem jungen Mann wie dir beibringen. Das wird nicht das sein, was Inquisitor Wolf unter Magie versteht, aber die wahre Natur der Seelen zu verstehen, könnte für dich nützlicher sein als angewandte Zauberei.« Großvater Kessler schüttelte sich kurz und stand auf. »Doch genug davon. Du bist schon ganz grün im Gesicht. Geh jetzt nach draußen, ein bisschen frische Luft schnappen.«
Statt nach draußen zu gehen, nahm Sascha die Treppe rauf zu Moische Schlosky.
Moische und Beka saßen zusammen draußen auf der Feuertreppe, ohne sich um die Kälte zu kümmern, und diskutierten so angeregt miteinander, dass ihre Köpfe sich fast berührten. Sascha starrte Moische so lange an, bis das Gesicht des Älteren fast so rot wurde wie seine Haare.
»Was dagegen, wenn ich mir mal kurz deinen Liebsten ausleihe?«, fragte er Beka.
»Untersteh dich, ihn so zu nennen!«, entrüstete sich Beka.
»So oder so, ich muss mit ihm reden. Selbstverständlich nicht über dich«, beeilte er sich zu sagen, als er Bekas zornigen Blick sah. »Es wird ein rein sachlicher Austausch. Streng geheim.«
Beka und Moische wechselten einen Blick untereinander, der Sascha verriet, dass sein Geheimnis bei Moische nicht sicher aufgehoben sein würde. Aber das war nicht sein Problem.
»Wo ist dein Bruder?«, fragte er Moische, sobald Beka außer Hörweite war.
»Fragst
du
das? Oder Inquisitor Wolf?«
»Er fragt das. Und wenn dir an Sam etwas liegt, solltest du es Wolf sagen.«
»Das sehe ich nicht so.«
Sascha fragte sich, ob er Moische nicht recht geben sollte. Aber er tat alles, um Wolfs Anliegen zu vertreten.
»Ich frage jeden, der wissen könnte, wo mein Bruder steckt«, sagte Moische. »Mehr kann ich nicht versprechen.«
»Gut«, sagte Sascha und wandte sich zum Gehen.
»Weißt du«, sinnierte Moische, »du hättest damit drohen können, deinen Eltern zu sagen, dass du Beka und mich zusammen auf der Feuertreppe ertappt hast, wenn ich dir nicht verrate, wo sich Sam aufhält.«
Sascha wunderte sich über diesen Einfall. Daran hatte er gar nicht gedacht.
»Aber du bist einfach zu nett, um so etwas zu tun.«
»Oder nicht erfinderisch genug. Und ihr habt ja gar nichts gemacht!«
»Meinst du, das hätte für deine Mutter eine Rolle gespielt?«, fragte Moische
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