Der Schattenjäger (German Edition)
der Rabbi.
»Sie hält sich draußen vor der Stadt in einem Feld versteckt, mit deinen Enkelkindern.«
»Was sagt sie dazu, einen langsamen, alten Mann mit nach Amerika zu schleppen?«
»Nur wegen ihr bin ich heute überhaupt hier.«
An dieser Stelle hielt der Rabbi stets den Elija-Becher – einen alten
Kiddusch-
Kelch, der seit mehreren Jahrhunderten in der Familie Kessler weitervererbt wurde – in die Höhe. »Das ist das Einzige, was ich mitgenommen habe«, sagte er. »In den folgenden drei Monaten durchwanderten wir Europa. Und auf der Wanderung erlebte ich, wie die junge Frau, deretwegen ich meinen Sohn enterbt hatte, dutzende Male das Leben meiner Enkelkinder rettete. Ohne sie gäbe es jetzt keine Kesslernachkommen, denen ich diesen Kelch vermachen könnte. Ich danke deshalb dem Allmächtigen, dass er mich aus Ägypten geführt hat und dass er meinem Sohn eine bessere Ehefrau gegeben hat, als ich je für ihn hätte wählen können.« Mit diesen Worten endete die Geschichte.
»Leg jetzt meinen Gebetsschal beiseite«, sagte Rabbi Kessler, »und hol mir den Elija-Becher. Zwar ist es töricht, Trost aus schönen Dingen zu schöpfen, aber sei’s drum.«
Sascha ging zur Kommode, suchte den in ein Tuch gewickelten Becher hervor und brachte ihn seinem Großvater. Der alte Mann betrachtete den zierlichen, silbernen Kelch im Licht des späten Nachmittags. Er war mit einem schmalem Stiel und feinen Ornamenten aus Weintrauben und Granatäpfeln verziert.
»Der Kelch stammt aus dem Tal der Loire, wo sich unsere Familie nach der Vertreibung aus Spanien niedergelassen hatte. Er gehörte zuerst einem großen Gelehrten, einem Mann, der ein Schüler des berühmten
Isaak Luria
gewesen sein soll. Seither ist der Kelch auch in bewegten Zeiten, als wir von Frankreich nach Deutschland, von Deutschland nach Russland und von Russland nach Amerika geflohen sind, stets vom Vater auf den Sohn übergegangen. Viele große Gelehrte waren darunter, die gewusst hätten, wie man das Übel, das Morgaunt durch die Beschwörung des Totenwesens verursacht hat, wieder aus der Welt schafft. Du musst ihre Erfahrung und ihr Wissen nutzen. Das Wissen von Männern, deren Lebensaufgabe darin bestand, die Welt zu retten. Bei ihnen findest du die richtigen Antworten und nicht bei Männern, die mit Magie nur ihren Machthunger stillen.«
»Dann hilf mir«, bat ihn Sascha. »Bring es mir bei!«
»Wie könnte
ich
dir helfen? Was soll ich dich lehren? Aus gutem Grund stehen die Bücher, die du genommen hattest, versteckt in einem Wandschrank und nicht offen in der
Schul
, wo sie jeder studieren könnte! Ebenso wie es seinen Grund hat, dass die großen Kabbalisten ihr Wissen nur an mit dem Talmud vertraute Männer weitergaben, die der Versuchung widerstehen können, das Wissen und die damit verbundene Macht zu missbrauchen.« Rabbi Kessler schüttelte den Kopf. »Ich überlege schon länger, wie ich dir mit meinem Wissen eher nützen als schaden könnte, doch die Antwort ist schwer, sehr schwer.«
Als Saschas Großvater erneut sprach, wählte er seine Worte mit Bedacht, damit er nicht aus Versehen mehr enthüllte, als er wollte.
»Vielleicht hatte ich recht, an den Elija-Kelch zu denken«, sagte er schließlich. »Sag mal, Sascha, hast du schon einmal von der Lehre des
Gilgul ha-neschamot
gehört?«
Sascha schüttelte den Kopf.
»Aber du verstehst doch den hebräischen Ausdruck?«
»Neshama bedeutet Seele«, antwortete Sascha zögernd. »Und
Gilgul
– ist das nicht das Wort für ›Rad‹?«
»Dann ist in deinem Kopf doch noch Platz für anderes als Baseball«, stellte sein Großvater mit Freude fest. »Ja, das ist die wörtliche Bedeutung des Ausdrucks. Oder wie es Isaak Luria nennt: die Lehre der wandernden Seelen.«
»Ich dachte, das sei alles bloß Aberglaube.«
»Du meinst die Sage, dass eine Seele so viele Leben lebe, wie sie braucht, um alle sechshundertdreizehn
Mitzwot
zu erfüllen«, sagte Rabbi Kessler. »Ja, das halte ich auch für Unsinn, wenngleich es zwischen Unsinn und tiefer Wahrheit nur ein kleiner Schritt sein kann. Und die eine große Wahrheit über Seelenwesen, die ich weiß, ist folgende: Einst wurde Luria gefragt, was ein Dibbuk sei. Und er antwortete, spirituelle Besessenheit gehöre zu den tiefsten Geheimnissen unseres Glaubens und sei unlösbar mit Gilgul
,
der Seelenwanderung, verbunden. Nach Lurias Lehre gibt es Besessenheit, die einem schweren Schaden zufügen kann – nämlich durch Dibbuks –, aber es gibt
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