Der Schattenjäger (German Edition)
hast einen schrecklichen Fehler begangen – aber den Dibbuk hast du nicht beschworen. Als du meine Tefillin und meine Bücher an dich nahmst, hast du dem Dibbuk lediglich verraten, wo du bist.« Ihn schauderte. »Diese Sünde hat Morgaunt begangen. Ob sie unverzeihlich ist, darüber entscheidest du allein.«
»Als ob Morgaunt
mich
jemals um Vergebung bitten würde!«
»Die Welt hat schon ganz anderes gesehen, mein Junge.«
»Aber woher hatte Morgaunt die Macht, den Dibbuk ins Leben zu rufen?«, fragte Sascha. Er wollte das Thema Vergebung vom Tisch haben. »Er ist doch kein Kabbalist.«
»Um ein Haus abzubrennen, braucht man nicht das Wesen des Feuers zu verstehen! Morgaunt ist wie ein Kind, das mit Streichhölzern spielt. Männer wie er verfügen über die größten Mächte dieser Welt: Gier und Unwissenheit.«
»Aber«, sagte Sascha, der die Hoffnung nicht aufgeben wollte, »vielleicht ist der Dibbuk gar kein echtes Seelenwesen. Oder Antonio hat ihn getötet.«
»Nein, Sascha, ich befürchte, der Totengeist ist noch da. Und da es deine Gestalt angenommen hat, sozusagen zu deinem Doppelgänger geworden ist, muss dieses Wesen deine Seele beinahe ganz eingenommen haben. Wenn aber ein Dibbuk einen Menschen besitzt, lässt er ihn nie wieder los. Ich fürchte, du musst für dein Leben Herr über diese Kreatur werden. Und obgleich solche Kämpfe die großen Erzählungen der Kabbalisten ausmachen, wünsche ich niemandem so ein Schicksal.«
Sascha starrte seinen Großvater in stummer Verzweiflung an und auch der alte Mann blieb minutenlang schweigend sitzen, dann schüttelte er den Kopf und lachte bitter.
»Ich mache mir Vorwürfe«, sagte er schließlich. »Ich mache mir schwere Vorwürfe, mehr als du ahnst. Das habe ich mir durch meine Eitelkeit eingebrockt. Es brach mir das Herz, das keiner meiner Söhne die Begabung hatte, in meine Fußstapfen zu treten – nun, vielmehr glaubte ich in meinem Stolz, dass es mir das Herz brechen würde. Als dein Vater sich wegen deiner Mutter über meinen Willen hinwegsetzte, reagierte ich zornig. Dabei wusste ich, dass dein Vater ein mächtiger Magier war. Als ich erfuhr, dass sie einen Sohn zur Welt gebracht hatte, träumte ich davon – ohne es mir recht einzugestehen –, dass du einmal ein würdiger Nachfolger in der Tradition deiner beiden Großväter sein würdest. Nun, Sascha, siehst du, wie der Herr mit der Eitelkeit alter Männer umgeht. Glaube nur ja nicht, Er habe keinen Sinn für Humor!«
»Bist du dem Vater meiner Mutter jemals begegnet?«, fragte Sascha.
»Nur einmal«, antwortete Rabbi Kessler, »vor langer Zeit, als deine Eltern noch Kinder waren. Später waren wir beide zu dickköpfig, um uns auszusprechen, und den Rest der Geschichte kennst du ja.« Aber sicher kannte Sascha jede einzelne Zeile dieser Geschichte, denn sein Großvater erzählte sie jedes Jahr zu Pessach.
Zu Beginn sagte er immer, er sei der Erstgeborene einer großen Rabbinerdynastie und daher zu einem Leben in Frömmigkeit und Gelehrsamkeit bestimmt. Freilich sei er auch anfällig für übertriebenen Stolz auf seine noble Herkunft gewesen. Dann widersetzte sich ihm sein eigener Erstgeborener, als dieser zum Studium nach Moskau ging. Aber schlimmer noch: Der junge Danny Kessler geriet in Konflikt mit der Geheimpolizei des Zaren, wurde von der Universität geworfen und verliebte sich in die Tochter eines armen Wunderrebben, ein Mann, der für alles stand, was die Kesslers stets verachtet hatten. Das war der Gipfel! Rabbi Kessler drohte damals seinem Sohn Danny, ihn zu enterben, falls er dieses Mädchen heiratete. (»Was war ich doch für ein Trottel!«, rief Großvater Kessler an diesem Punkt der Erzählung immer.)
Danny Kessler hat mit seinem Vater gar nicht erst gestritten, sondern war aus dem Haus gegangen und viele Jahre nicht mehr gesehen worden. (»Und ich war ein Volltrottel«, rief Saschas Vater jedes Mal, wenn Rabbi Kessler auf das Vater-Sohn-Verhältnis zu sprechen kam.)
Danny Kessler blieb sechs Jahre weg, und erst als eine Pogromwelle über das Land ging und Tausende von Familien ihr Heim in den Flammen verloren, kam er zurück. Eines Abends trat Danny in das Arbeitszimmer seines Vaters und sah aus, als habe er eine Woche lang im Straßengraben gelegen. Er zog eine Taschenuhr hervor, legte sie auf den Schreibtisch des Rabbi und sagte seinem Vater, er habe eine Viertelstunde, um die Sachen einzupacken, die er nach Amerika mitnehmen wolle.
»Wo ist deine Frau?«, fragte ihn
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