Der Schattenjäger (German Edition)
freudig, als sie den Stapel Akten sah, den Payton gerade noch gerettet hatte. »Es sieht so aus, als hätte man schon ohne mich angefangen.«
In den folgenden fünf Minuten waren alle damit beschäftigt, Aktenberge zu bewegen. Wolf schlug vor, die Gelegenheit zu einer Neuorganisation des Büros zu nutzen, doch Payton brauchte nur einen ungläubigen Blick, um ihm diese Idee wieder auszutreiben. Sascha konnte es ihm nicht verdenken. Wolf produzierte in einem Tempo Aktenvermerke, Briefe und Notizen aller Art, dass Sascha sich darüber wunderte, bisher in keiner Papierflut untergegangen zu sein. Und entweder gehörte Payton zu den mächtigsten Zauberern der ganzen Abteilung oder aber er warf heimlich alte Akten aus dem Fenster.
Während Sascha dabei half, eine Wand frei zu machen, schielte er immer wieder zu Inquisitor Wolf hinüber und fragte sich, mit einem flauen Gefühl im Magen, worüber sein Vorgesetzter mit ihm reden wolle. Als der Projektor aufgebaut war, kletterte Wolf auf die Fensterbank und zog das Rollo herunter, mit dem auch eine ganze Sammlung eingetrockneter Insekten herunterkam, die man dem Naturkundemuseum hätte schenken können.
Dann nahmen alle ihre Plätze ein, um sich den Film vom letzten Auftritt des Klezmerkönigs anzuschauen. Der Projektor setzte sich ratternd in Gang und warf ein flimmerndes, schwarzes Viereck an die Wand. In dessen Mitte erschien plötzlich ein heller Kreis, jemand musste einen Scheinwerfer eingeschaltet haben, und dann wurde die Bühne des Hippodrome sichtbar. Das Bild wackelte, Sascha hörte einen dumpfen Schlag, ein Rascheln und Kratzen und dann war Maurice Goldfadens Stimme zu vernehmen: »Test! Test! Wo ist dieses blöde Ding? Ah, da ist es ja!«
Naftali Asher betrat eilig und zappelig die Bühne, die Lämpchen seines elektrischen Fracks leuchteten und seine Klarinette schimmerte. In der Mitte der Bühne blieb er stehen, warf einen langen, verächtlichen Blick ins Publikum, mit dem er wohl sagen wollte, dass es reine Verschwendung sei, für sie zu spielen, und drehte seinen Zuschauern den Rücken zu. Dann setzte er seine Klarinette an die Lippen und begann zu spielen. Den Rest seines Lebens suchte Sascha nach Worten, um diese Musik zu beschreiben. Jahre später sollte er vergebens die Schallplattenläden am Broadway abklappern und unter den Aufnahmen neuerer Klezmerstars nach etwas suchen, was annähernd mit der Musik Naftali Ashers zu vergleichen wäre.
Asher war ausgezeichnet. Er entlockte seiner Klarinette bebende Noten, herzzerbrechende Seufzer und schmachtende Glissandi, die Klezmermusik zur Stimme der jüdischen Seele machten. Und Ashers Lieder waren unvergleichlich. In ihnen verband sich eine viertausend Jahre alte Tradition mit dem Kummer und den Freuden des neuen Lebens in Amerika. Sascha wusste sofort, woher dem Klezmerkönig diese geheimnisvollen Melodien zuflossen. Es waren die gleichen, die er aus Mr Worleys Seelenfänger und Thomas Edisons Ätherographen kannte. Es waren die Seelen wirklicher, lebender Menschen, die man in kleine Wachszylinder eingraviert und in Morgaunts Bibliothek aufbewahrt hatte. Seit der schrecklichen Nacht in den brennenden Ruinen des Hotels Elefant hatte Sascha diese Melodien aus seinem Bewusstsein verdrängt. Doch die vom warmen Ton einer Klarinette getragene Musik weckte seine Erinnerung an die einsamen, schmachtenden Klänge von Lilys Lied. Und Inquisitor Wolfs Aufnahme? Für diese Melodien fehlten Sascha die Worte. Ein Mensch musste wohl sein ganzes Leben – ein ungewöhnlich langes – darauf verwenden, die Quellen des verborgenen und komplizierten Wesens des Maximilian Wolf herauszuhören. Dieser stand plötzlich auf und hielt den Film an. Sascha fühlte sich wie weggetreten. War er nicht eben noch im Hippodrome gewesen? Und nun saß er im Büro des Inquisitors. Den anderen Zuschauern schien es ähnlich zu gehen, sie schauten sich um und schüttelten sich, als wären sie eben noch durch dunkle Fluten getaucht. Während aber Payton und Rosie mühelos wieder zu sich kamen, sah er bei Lily und Wolf das gleiche bestürzte Gesicht, das er auch bei sich selbst vermutete.
»War das nicht …?«, begann Sascha.
»Hat dich das nicht an etwas erinnert?«, fragte Lily im selben Augenblick.
»Ja, ich weiß«, sagte Rosie. »Das dachte ich auch. Aber warum sollte Mr Edison Asher erlaubt haben, sich die Aufnahmen des Ätherographen anzuhören? Das macht doch keinen Sinn. Und woher sollten sie sich kennen?«
»Hat Edison noch an
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