Der Schattenjäger (German Edition)
unsicher klang.
Morgaunt sah ihn verständnisvoll, weich und fast freundlich an. »Natürlich glaubst du mir nicht«, sagte er. »Das tun sie nie, bis es zu spät ist.«
In diesem Augenblick stießen Wolf und Lily zu ihnen.
Wolf betrachtete Morgaunt so seltsam, dass Sascha plötzlich der Verdacht kam, Wolf habe ihn absichtlich allein mit Morgaunt gelassen. Wut stieg in ihm auf. Wollte Wolf ihn auf die Probe stellen? Oder hielt er es nicht für nötig, ihn gegen Morgaunts Hohn und Spott zu schützen?
Doch Saschas zorniger Blick perlte an Wolf ab wie Wasser an Ölzeug.
Während sich die Männer gemeinsam entfernten, lehnte sich Sascha auf das Geländer und vergrub den Kopf in beiden Händen.
»Was wollte denn Morgaunt von dir?«, fragte Lily.
»Nichts.«
Sie runzelte die Stirn. »Du siehst aber nicht so aus.«
Sascha schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
»Alles in Ordnung?«, fragte Lily. Und da er nicht antwortete, blieb sie verlegen neben ihm stehen, bis sie ihm schließlich sanft auf die Schulter klopfte. Es war eine unbeholfene Geste, als hätte sie das noch nie gemacht und müsste erst noch den Bogen herausbekommen. Doch tatsächlich fühlte Sascha sich danach besser.
12 Ein gefährlicher Mann
Der folgende Morgen war ein Freitag. Der Tag, an dem Sascha und Lily zu Shens Trainingsstunde gingen und der Höhepunkt ihrer Woche. Sie waren jetzt fast schon ein ganzes Jahr bei ihr im Unterricht. Lily war ganz vernarrt in ihre Lehrerin und auch Sascha hatte die Kung-Fu-Begeisterung gepackt.
In den ersten Monaten hatte Sascha Muskeln, Sehnen und Bänder trainiert, von denen er nicht einmal geahnt hatte, dass er sie besaß. Die trainierten Muskeln schienen dann wiederum eigene kleine Muskeln zu entwickeln. Anfangs waren er und Lily nach Shens Stunden herumgeschlurft, die Beine schwer wie Blei, die Arme brennend vor Schmerz, als wären es keine Gliedmaßen, sondern Instrumente einer besonders grausamen Foltermethode.
Doch die anfängliche Quälerei hatte sich gelohnt. Nach und nach waren sie von Shen in die Geheimlehre eingeweiht worden, die Sascha als Kampftechnik und Bewegungskunst erlernte. Schritt für Schritt hatte Shen ihnen unglaubliche Bewegungen und Formen beigebracht, die er und Lily schon am ersten Tag bei den anderen Schülern beobachtet hatten.
Sascha mochte diese Formen. Schon allein die Namen: Drache, Schlange, Tiger, Leopard und Kranich. Und ihm gefiel, wie jede dieser Bewegungen Eigenart und Wesen des betreffenden Tiers ausdrückte: die majestätische, fließende Kraft des Drachen, die Geschmeidigkeit der Schlange, die Stärke und Beweglichkeit des Tigers, die Schnelligkeit des Leoparden, die stille Eleganz des Kranichs. Gemeinsam beschworen sie Bilder eines fernen, schönen Landes mit hohen Bergen, perlmuttschillernden Flüssen und grünen Zedern. Ein Land aus einer anderen Welt, die nichts mit dem grauen Alltag der Hester Street zu tun hatte.
Doch Shen lehrte sie nicht nur die Bewegungsformen des Shaolin-Kung-Fu. Sie erzählte ihnen auch, wie die Shaolin-Mönche das Kung-Fu nutzten, um sich gegen bewaffnete Gegner zu verteidigen, ohne sie zu töten. Und wie die Mönche ganz China durchwanderten, um mit ihrer Kunst und ihren Mut den Schwachen beizustehen und der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen. Den wahren Meistern ging es aber nicht um bloße Kampfkunst – auch nicht für einen edlen Zweck –, sondern um höhere Einsicht und die vollkommene Körperbeherrschung. Sie hatten verinnerlicht, dass Kung-Fu auf Wu-Wie vorbereitete, auf den Pfad des Nichthandelns. Diejenigen, die diesen Pfad beschritten, erlangten Weisheit, die sie zu Unsterblichen machte.
Lily glaubte fest daran, dass Shen eine Unsterbliche war, und sie hätte sie furchtbar gern darüber ausgefragt. Saschas Einwand, dass Shen sich selbst immer als Schülerin bezeichnete, wischte Lily einfach beiseite.
»Shen soll eine Schülerin sein? Das ist doch lächerlich! Ich habe in den
Sieben geheimen Sagen der Shaolin
gelesen – oder war es in
Shaolin Sheriff?
– egal, in irgendeiner Zeitschrift, da stand, Unsterbliche sagen das immer. Aber ich sage dir, sie gehört zu den Unsterblichen, den Meistern des Kung-Fu!«
Lily brachte Shen eine schulmädchenhafte Heldenverehrung entgegen. Sascha machte sich deswegen über sie lustig, aber wenn er ehrlich war, hatte auch er sich dieses Virus eingefangen. Und je mehr er darüber nachdachte, desto mehr gefiel ihm die Vorstellung, statt Magie lieber Kung-Fu zu lernen. Nicht nur,
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