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Der Schattenjäger (German Edition)

Der Schattenjäger (German Edition)

Titel: Der Schattenjäger (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chris Moriarty
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erleichtert über die Ablenkung. Sie zuckte mit den Schultern, lächelte und huschte, an Sascha vorbei, zurück in die Schule. In der folgenden Übungsstunde hatte Sascha den Eindruck, dass sie es vermied, mit ihm allein zu sein, dass sie seinem Blick auswich und ihm keine Gelegenheit ließ, die Frage, die sie ihm schon beantworten wollte, noch einmal zu stellen.
    Und dabei blieb es. Wie immer auch Shens Antwort gelautet hätte, sie musste warten. Und wie Sascha Shen kannte, war es gut möglich, dass sie sich bis zur nächsten Stunde anders besinnen würde. Was hatte Wolf noch über Shen gesagt? Sie sei keine Frau der leichten Antworten, oder eine, die Antworten lieber vermied, wenn es sich einrichten ließ. Sascha verstand nun, was es damit auf sich hatte.

13 Halt den Mund und sieh verzaubert aus
    Nach der Unterrichtsstunde mit Shen verbrachten Sascha und Lily den Rest des Tages damit, Wolf erneut zu all den Orten in New York zu begleiten, die sie schon einmal auf der Suche nach Sam Schlosky durchgekämmt hatten. Mit dem Unterschied, dass auf Wolfs Liste nun auch die Leichenhäuser standen. Sascha hatte seinen Leitwolf schon in viel schwerwiegenderen Fällen ermitteln sehen. In Wolfs Augen glomm dann ein Hunger nach Gerechtigkeit, ja fast ein Verlangen nach Rache, das dem Zerstörungswillen, den Bella da Serpa ihm unterstellte, gefährlich nahe kam. Doch nie zuvor hatte Wolf so viel Besorgnis um die Sicherheit eines Zeugen gezeigt. Während also Wolf in den Slums fieberhaft nach Sam suchte, musste Sascha immer denken, dass kein anderer Polizist in New York überhaupt Zeit und Mühe zum Schutz eines jüdischen Jungen aufwenden würde, eines Jungen, dessen Eltern so arm waren, dass sie nicht einmal die Miete in einer schäbigen Mietskaserne zahlen konnten.
    Als Sascha schließlich am Abend heim in die Hester Street schlurfte, lagen die engen Straßen seines Wohnviertels in tiefen Schatten. Vermutlich würde er wieder zu spät zum Essen kommen. Doch wie spät es wirklich war, wusste er nicht, ja er erinnerte sich nicht einmal, welcher Wochentag war, bis er die Tür der elterlichen Wohnung hinter sich geschlossen hatte.
    Die Stille, die ihn empfing, fiel wie eine Woge über ihn, und erst jetzt merkte er, dass sie ihn schon die Treppe raufbegleitet hatte, als ob das ganze Gebäude still erstarrt wäre. Nicht eine einzige Nähmaschine surrte, nicht im Hinterzimmer des Ehepaars Lehrer, nicht nebenan bei Goldsteins und auch nicht ein Stockwerk höher bei Kusiks oder eine Treppe tiefer bei Meyersons. Überall standen die Maschinen still.
    Diese Ruhe, verbunden mit dem Essig-und-Zitrone-Geruch der frisch geschrubbten Treppenflure und dem Honigduft der angezündeten Kerzen, konnte nur eines bedeuten: Es war Freitagabend,
Shabbes
.
    Sascha durchquerte das Zimmer der Lehrers und ging in die Küche. So spät konnte es nicht sein, denn seine Mutter und seine Schwester waren noch nicht von der Arbeit heimgekehrt. Aber die Sabbatkerzen waren schon angezündet und funkelten wie Sterne im Fenster. Großvater Kessler saß wie üblich aufrecht im Federbett. Mr und Mrs Lehrer hatten ihre Stühle in die Küche gebracht und leisteten Saschas Vater und Onkel Mordechai am Küchentisch Gesellschaft.
    Der Tisch war gedeckt, die Suppe stand auf dem Herd und zwei Sabbatbrote lagen unter einem gestickten Tuch bereit. Mrs Lehrer hatte dafür gesorgt, dass alles getan war, ehe Saschas Mutter nach Hause kam.
    Onkel Mordechai las im
Alphabet City Alchemist,
um jedem in der Runde klarzumachen, dass er zwar das beste Abendessen der Woche nicht verpassen wollte, aber nach wie vor ein eingefleischter Atheist war. Mo und Mrs Lehrer beugten sich über ihre Gebetbücher und Rabbi Kessler studierte einen staubigen Folianten über theoretische Kabbala. Sogar Saschas Vater hatte seine Zeitung beiseitegelegt und las etwas Besinnliches.
    Sascha hängte seinen Mantel an den Kleiderhaken und wollte sich zu seinem Großvater aufs Bett setzen, aber es zog ihn irgendetwas zum Fenster und zu der dahinterliegenden Dunkelheit. Er stand neben den Kerzen, lehnte die Stirn an die kühle Fensterscheibe und beschirmte die Augen mit der Hand, um den hellen Widerschein der Küche auszublenden. Draußen lag dunkelblau die Stadt, über ihr schimmerte noch das letzte schwache Licht des vergangenen Tages und am Himmel gingen die Rosatöne des Abendrots in das Dunkelblau der Nacht über, während die ersten Sterne aufzogen. Die schwarzen Dächer der Mietskasernen lagen unter ihm

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