Der Schattenjäger (German Edition)
wie ein schwarzer Ozean. Nur hier und da entdeckte er in anderen Fenstern den schwachen Schimmer von Sabbatkerzen. Je länger er hinausschaute, desto mehr Lichter leuchteten in den Fenstern, bis die ganze Hester Street die Sterne am Himmel zu spiegeln schien. Es lag etwas unbeschreiblich Trauriges darin, an all die erschöpften Frauen zu denken, die sich jetzt müde nach Hause schleppten. Der Anblick der Kerzenlichter tat ihm in der Seele weh. Was konnten ein paar Kerzenlichter schon in der tintenschwarzen Dunkelheit dieser grausamen, riesigen Stadt ausrichten?
»Als am Anfang das Licht Gottes in das All flutete«, sagte sein Großvater, der so leise zu ihm getreten war, dass Sascha zusammenzuckte, »da war es so überreich, dass es die Schalen zerbrach, die es empfangen sollten. Und die göttlichen Funken wirbelten umher, manche blieben im Himmel, andere fielen in die tiefen Schatten. Dort kühlten sie ab, verloren an Glanz und vermischten sich mit den Hülsen der Schöpfung. Unsere Aufgabe ist es daher, die Funken zu erkennen, das göttliche Licht aus den zerbrochenen Schalen zu sammeln und es Gott zurückzugeben, damit die Welt wieder heil werde.«
Nebeneinander standen sie am Fenster und schauten schweigend hinaus.
»Musst du morgen arbeiten?«, fragte sein Großvater in beiläufigem Ton, der aber für beide unmissverständlich war.
»Nein – jedenfalls nicht am Vormittag.«
»Schön. Du arbeitest zu viel. Und du solltest öfter mal in die Schul kommen. Ich habe mit Mo über diese Sache geredet, die uns vergangene Woche beschäftigt hat. Er meint, es wäre das Beste für dich, in die Schul zu kommen.«
Sascha seufzte. Er hatte keine Lust, jedes Wochenende stundenlang in der Schul zu sitzen, schon gar nicht, sich jeden Abend nach Dienstschluss auch noch dorthin zu schleppen, wie es manche Schüler des Rabbi taten. Und was sollte ihm das nützen? Hatte sein Großvater nicht zugegeben, dass er und Mo ihm keine praktische Magie beibringen würden?
Ehe er etwas erwidern konnte, kamen Beka und Mrs Kessler nach Hause.
»Wir müssen mit dir reden«, flüsterte Beka ihm zu, als sie neben ihm auf dem weichen Federbett saß.
»Wen meinst du mit ›wir‹?«, wollte Sascha wissen.
»Pst!« Beka schielte nervös zu ihrer Mutter. »Nicht hier!« Und dann warf sie den Kopf in den Nacken und blickte zur Zimmerdecke.
Sascha hätte gern so getan, als verstünde er nicht, was Beka mit dieser Geste meinte, aber es war nur zu klar. Sie wollte sich mit ihm Samstag nach Schabbes-Ende dort oben im siebten Stock in der Zentrale der Magischen Werktätigen treffen. Er war Moische die ganze Woche aus dem Weg gegangen, damit er nicht in eine lächerliche Kampagne, die der Anführer der IMW sich wieder ausgedacht hatte, hineingezogen würde. Wenn aber auch Beka entschlossen war, ihn ins Boot zu holen, hatte er keine Chance zu entkommen.
Am späteren Samstagabend, als Schabbes vorüber war und Sascha keine Ausrede mehr fand, trat er widerwillig den Weg in die oberen Stockwerke an. Schon auf der Treppe hörte er Gesang und Gelächter, dann erkannte er auch die Klänge einer Gitarre. Dennoch konnte er, als er eintrat, seine Überraschung über das Schauspiel, das ihm geboten wurde, nicht verbergen.
Der große Raum war von einem Meer aus Streikführern erfüllt. Und alle drängten sich um einen heruntergekommenen jungen Mann mit Gitarre, der ihnen eine hinreißende Version von »
Pie in the Sky
« vortrug. Zuerst erkannte Sascha seine Schwester in der Menge nicht, schließlich sah er sie aber. Sie hockte neben Moische auf der Fensterbank. Moische hatte den Arm um sie gelegt, und ein Blick in Bekas Gesicht lehrte Sascha, dass er darüber besser kein Wort verlor.
»Komm mit nach draußen, da können wir reden«, rief Beka über die singende Menge. Sie öffnete das Fenster und trat hinaus auf die Feuertreppe.
Sascha folgte ihr und nach ihm kam auch Moische, der anschließend das Fenster hinter ihnen schloss.
Moische räusperte sich, was wie eine Gans klang, der man den Hals umdrehte. »Du musst uns einen Gefallen tun, Sascha.«
»Ich werde bestimmt nicht für euch spionieren«, entgegnete Sascha. Er erinnerte sich an das letzte Mal, als Moische ihn um einen Gefallen gebeten hatte. »Das könnt ihr vergessen!«
»Nein, nein, nichts dergleichen. Es ist wirklich nur eine Kleinigkeit. Du brauchst uns nur ein paar Minuten deiner kostbaren Zeit zu schenken.«
»Wofür?«, fragte Sascha argwöhnisch.
»Oh, fast nichts. Nur ein
Weitere Kostenlose Bücher