Der Schattenjäger (German Edition)
»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber Meyer muss ihn wirklich sprechen.« Benny zwinkerte und dämpfte die Stimme zu raunendem Flüstern. »Eine Inquisitorensache.«
Saschas Vater sah seinen Sohn fragend an, aber Sascha zuckte nur die Schulter.
»Begleiten Sie ihn aber persönlich nach Hause, wenn er fertig ist. Seien Sie so gut, Benny.«
»Wird gemacht, Mr Kessler!«
Die Schaufensterfront des Süßwarenladens in der Essex Street war unbeleuchtet und das Gitter davor heruntergelassen, aber Sascha sah einen Lichtschein im Hinterzimmer, und tatsächlich wartete dort auch Minsky auf ihn.
»Ich habe Kid Klezmer gebeten, ebenfalls dabei zu sein«, erläuterte Meyer, »weil ich der Meinung bin, dass er das auch hören sollte.«
Dann warteten sie, dass ein vierter Mann zu reden begann, der so leise und unauffällig war, dass man ihn immer übersah.
»Sag ihm, was du gesehen hast, Nebbs«, ermunterte ihn Minsky.
»Was ich auf den Gleisen gesehen habe?«, sagte der kleine graue Mann.
»Nein, in der Oper«, scherzte Minsky. »Stell dich nicht dumm, Nebbs!«
Der kleine graue Mann zwinkerte Sascha bedeutungsvoll zu. »Meyer hält sich für einen Scherzbold.«
»Ich bin witzig«, korrigierte ihn Meyer, »aber du hast keinen Humor.«
Plötzlich fiel es Sascha ein. Nebbs war die Abkürzung für
Nebbich,
und das bedeutete so viel wie »Niemand«. Aber ihm gegenüber am Tisch saß nicht irgendein Niemand, sondern das war der Nebbich, der berühmte Meisterdenker im Dienst von Magic Inc. Sascha sah ihn in offener Bewunderung an. Der Mann war in der ganzen Stadt berühmt für seine Unscheinbar- und Unfassbarkeit. Er ging selbst in einer Dreiergruppe unter, und wenn er irgendwo eintrat, schien der Raum plötzlich noch leerer zu werden.
Sascha betrachtete ihn und zerbrach sich den Kopf, ob er den Mann schon einmal gesehen hatte. Er war sich eben nicht sicher.
»Nu, vor ein paar Wochen war ich in der Nähe von Astral Place«, begann Nebbich seine Erzählung. »Nicht weit von der Pentacle-Textilfabrik war das, da sah ich was, das musste ich mir genauer anschauen. Und was war das wohl?«
»Keine Ahnung«, sagte Sascha, als klar wurde, dass Nebbich darauf wartete, dass Sascha etwas sagte.
»Der Klezmerkönig. Aber er schlich so dahin, als wollte er vermeiden, dass man ihn erkannte. Nu, Nebbich, sagte ich zu mir, der Mann würde gutes Geld dafür geben, nicht gesehen zu werden. Und wenn man so einen sieht, weiß man, dass er etwas vorhat, wofür ein anderer wiederum gutes Geld zahlen würde, um es zu erfahren. Nu, was tu ich also? Ich folge ihm. Und wohin geht er? Schnurstracks zur U-Bahn-Station Astral Place. Und was tut er da?«
Nebbich mimte einen Mann, der eine Treppe hinunterstieg.
»Er geht runter zur U-Bahn.«
»Genau das«, bestätigte Nebbich. »Unten tritt er auf den Bahnsteig, schaut sich um, ob ihn auch niemand beobachtet – außer mir natürlich –, und geht bis zum anderen Ende des Bahnsteigs. Dort springt er auf die Gleise und geht weiter.«
Und wieder schaute Nebbich Sascha erwartungsvoll an.
»Was haben Sie dann getan?«, fragte Sascha.
»Was ich getan habe? Ich bin ihm gefolgt.«
»Und?«
»Nu, kaum hab ich den Bahnsteig verlassen, sehe ich, dass er nicht weit gegangen ist. Er steht gerade so im Schatten, damit man ihn vom Bahnsteig aus nicht sehen kann. Und da wartet er nun, als ob er eine Verabredung hätte. Und wirklich, nach einer Minute kommt jemand.«
»Das wird dir gefallen«, sagte Meyer. Aber das glaubte Sascha ganz und gar nicht.
»Das Gesicht des anderen habe ich nie gesehen. Er trat aus dem Tunnel heraus, blieb aber im Schatten, da war nichts zu machen. Ich wette, auch Asher hat sein Gesicht nicht gesehen. Aber seine Stimme habe ich gehört und das genügte mir. Diese Stimme würde ich überall wiedererkennen. Es war die Stimme des Schattenjägers.«
Die vier Männer sahen einander an.
»Was hat die Stimme zu Asher gesagt?«, fragte Sascha schließlich.
»Ich weiß es nicht. Aber was Asher erwidert hat, das habe ich gehört. Das war nicht schön.«
»Das wissen wir schon«, sagte Sascha. »Er hat für sie gearbeitet und wollte aussteigen.«
Nebbich hob die Schultern und legte den Kopf schief. »Vielleicht weißt du mehr als ich, aber das waren nicht die Worte, die ich gehört habe. Bei dem, was ich gehört habe, ging es nicht ums Aussteigen, sondern ums Umbringen. Er sagte, Sam Schlosky sei ihnen auf die Spur gekommen. Er habe nicht die Nerven, das Geheimnis zu
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