Der Schattenjäger (German Edition)
bewahren. Also sollten sie Sam lieber rasch umbringen, ehe der bei der Polizei singen werde.«
Sascha wurde schwindelig und unruhig. War der ganze Fall umgekehrt worden, das Opfer zum Täter und der Hauptverdächtige zum Opfer gemacht? Rosies Film von Naftali Ashers Tod bekam plötzlich eine neue Bedeutung. Die Antwort hatte die ganze Zeit über vor ihren Augen gelegen, sie hatten sie nur nicht gesehen, oder genauer gesagt, sie hatten sie nicht richtig gehört.
Sie hatten alle angenommen, Asher habe am Ende Sams Namen gerufen, weil Sam den Unfall verursacht hatte oder weil er hoffte, Sam würde ihn retten. Wenn nun aber seine letzten Worte etwas ganz anderes bedeuteten? Wenn er gemeint hätte, dass eigentlich Sam hätte sterben sollen und nicht er, und er erst mit seinem letzten Atemzug gewahr wurde, dass er Opfer eines falschen Spiels war? Dann wäre Sam Schlosky in noch größerer Gefahr, als Wolf gefürchtet hatte.
18 Nächtliche Wanderungen
Sascha hatte Hell’s Kitchen schon halb durchquert, als ihm einfiel, dass Inquisitor Wolf um diese späte Stunde schon längst sein Büro verlassen haben würde.
Egal, sagte er sich. Für eine so wichtige Angelegenheit müssten sie ihm sagen, wo Wolf wohnte, schließlich ging es um Leben und Tod. Doch als er den Sergeant am Schalter nach Wolfs Adresse fragte, lachte ihm der Mann nur ins Gesicht. Sascha wusste nicht, ob der Mann Angst hatte, Wolf nachts zu stören, oder ob er nur Scherereien machen wollte, doch das spielte keine Rolle. Sascha wanderte noch ein paar Minuten durch die Gänge der Behörde, in der Hoffnung, Hilfe zu finden. Dann überlegte er sich, nach Chinatown zu gehen, Shen mitten in der Nacht aufzuwecken und sie zu fragen, ob sie wisse, wo Maximilian Wolf zu finden sei. Er dachte sich fünf verschiedene Gesprächsanfänge aus, aber ihm fehlte der Mut, es zu versuchen. Schließlich machte er sich auf den Weg zu dem einen Menschen, von dem er sich vorstellen konnte, dass er Wolfs Adresse kannte.
Das Witch’s Brew hatte schon lange geschlossen, nur ein paar Hartgesottene hockten noch an der Bar. Zu Saschas großer Erleichterung war auch Sullivan noch im Saloon. Der hünenhafte Mann räumte mit hochgekrempelten Ärmeln Gläser ab und stellte Stühle auf die Tische. Als Nächstes würde er den Boden mit warmem Essigwasser schrubben.
Sascha zog an der Tür, aber sie war schon verschlossen. Er klopfte mehrmals, bis Sullivan schließlich kam und durch das Fenster in die Dunkelheit spähte.
»Was in Teufels Namen machst du so spät abends noch da draußen?«, fragte Sullivan, als er sah, wer auf dem Gehsteig stand.
»Wolf …!«, keuchte Sascha.
»Jetzt beruhige dich erst mal und atme tief durch«, sagte Sullivan, »dann sehen wir, was sich machen lässt.«
»Ich muss unbedingt Inquisitor Wolf finden!«, stieß Sascha hervor.
Sullivan hob erstaunt die Augenbrauen. »Ich würde dir ja gern helfen, aber da muss ich passen.«
»Aber wissen Sie denn nicht, wo er wohnt?«
»Früher schon.«
Sascha hätte vor Enttäuschung losheulen wollen. »Kann mir denn niemand helfen? Es ist ein Notfall!«
»Kann Payton nicht Wolf für dich aus dem Bett holen?«
»Aber ich weiß auch nicht, wo Payton wohnt!«, rief Sascha verzweifelt.
»Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dich um diese Stunde allein durch Hell’s Kitchen laufen zu sehen«, sagte Sullivan, »besser, ich begleite dich. Oder noch besser, ich schicke dir jemanden, der dich begleitet.«
Er wandte sich zu dem Tisch in der hinteren Ecke und rief: »He! Ich brauche deine Hilfe!«
Sascha schaute zu dem Tisch und erkannte Paddy Doyle, der zu ihnen herüberschaute. »Was kann ich für dich tun?«, fragte er mit gewohnt charmanter Unbeschwertheit.
»Sei so gut und bring Sascha zu Philip Payton.«
Paddys Miene verfinsterte sich und seine Stimme klang missmutig. »Frag jemand anderen.«
»Ich frage aber dich, Paddy«, sagte Sullivan jetzt mit einem drohenden Unterton. Gleich darauf stand Paddy an Saschas Seite und sah ernüchtert, nachdenklich und viel jünger aus als sonst.
Paddy Doyle führte Sascha durch ein Labyrinth von Seitenstraßen und Gassen, bis dieser sich bald nicht mehr auskannte. Außerdem musste er fast rennen, um mit Paddy Schritt zu halten. Als sie die Anhöhe von Pepper Hill im Norden von Hell’s Kitchen erklommen, zitterten Sascha schon die Beine und seine Lunge rasselte.
Schließlich kamen sie in einer Siedlung von Kutscherhäuschen und Mietställen heraus. Vor ihnen lag eine
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