Der Schattenjäger (German Edition)
alle wahre Magie kommt
Sascha erinnerte sich nur vage, dass er hinaus auf den Bürgersteig gestolpert war und dann Payton mit seiner Frage, was denn los sei, einfach stehen gelassen hatte. Ihn beherrschte nur ein Gedanke: möglichst weit weg von den Grüften zu kommen. Und so floh er die Mulberry Street hinunter und verirrte sich im Gewirr der Straßen und Gassen von Little Italy. Als er langsam wieder zur Besinnung kam, befand er sich schon mitten in Chinatown. Und ohne recht zu wissen, wie ihm geschah, lenkte er seine Schritte zu dem kleinen chinesischen Kräuterladen und dem geheimen Innenhof, der zu Shens Tür führte.
Shen schrubbte in gleichmäßigen Zügen den Steinfußboden in der Übungshalle. Sascha war das Ritual vertraut. Er ging wortlos zum Spülstein, nahm einen Scheuerlappen, kniete sich hin und begann. Als Shen die letzte große Fliese sauber geschrubbt hatte, stand sie auf und wrang den Lappen über dem Eimer aus. Das Wasser, das in den Eimer tropfte, war so klar wie frisches Gebirgsquellwasser.
»Nun verrate mir«, sagte Shen, »was hat dich zu so früher Stunde hierhergeführt?«
Sascha wrang seinerseits den Lappen über dem Eimer aus und suchte nach Worten für die Fragen, die ihm auf den Nägeln brannten. Stockend erzählte er ihr alles, was geschehen war, seit er Moische zu Sam Schloskys Versteck gefolgt war.
Schwere Schuldgefühle bedrückten ihn. »Die Inquisitoren hätten ihn niemals gefunden, wenn ich sie nicht zu ihm geführt hätte.«
»Das ist durchaus möglich«, sagte Shen.
»Und dann habe ich nur nutzlos herumgestanden, während Moische sie wenigstens noch abzuwehren versuchte!« Bei dieser Erinnerung stieg ihm die Schamesröte ins Gesicht. »Alles das wäre nicht geschehen, wenn ich zaubern könnte! Wolf hat mir geraten, es zu lernen. Aber ich wollte nicht auf ihn hören!«
»Gegen die Waffen der Polizei hättest du nichts ausrichten können, selbst wenn du vom ersten Tag deiner Lehrlingszeit an bei Wolf das Zaubern angefangen hättest«, beschwichtigte ihn Shen. »Man braucht Jahre, um solche magischen Kräfte richtig anzuwenden.«
»Warum kann dann jede Hausfrau in der Hester Street zaubern? Und jeder Hexer über zwölf aus Hell’s Kitchen? Sieh dir doch Benny Fein an, selbst der kann zaubern! Und Gott der Herr gab ihm nicht mehr Verstand als einer Steckrübe!«
»Zaubersprüche auswendig zu lernen ist nicht das Gleiche, wie die Quellen der Magie zu beherrschen«, erklärte Shen. »Und je mehr Macht jemand hat, desto gefährlicher wird es für ihn, sie anzuwenden.«
Sascha sprang auf und warf den Scheuerlappen mit solchem Schwung in den Eimer, dass das Wasser auf die Steinfliesen spritzte. »Ich hasse Zauberei!«, stieß er hervor. »Ich hasse alles an ihr! Hat es den Menschen jemals etwas anderes gebracht als Kummer?«
»Warum sagst du mir nicht, was dich wirklich quält?«, sagte Shen sanft.
Langsam und schleppend gestand Sascha die wachsende Angst in ihm. Dass er fürchtete, der Dibbuk könne zurück sein, dass er von seinem eigenen Schatten verschlungen werden könnte und Morgaunt immer noch Macht über ihn besitze, wodurch er am Ende nur noch dessen Marionette sein würde.
»Wenn das alles wahr ist«, sagte Shen, »dann hat dein Großvater recht, dann kann dir praktische Zauberei nicht ausreichend helfen.«
»Aber was denn dann?«
»Es gibt viele Formen der Magie, Sascha. Mit Zaubersprüchen dem Glück nachzuhelfen, wie es viele Leute im Alltag tun, ist das eine, aber große Magie ist etwas ganz anderes. Echte Magier können Menschen mit ungeheuren Kräften sein, ohne je gelernt zu haben, diese Kräfte in der richtigen Weise anzuwenden. Es können aber auch Menschen wie die großen magischen Krieger des Alten China sein – Männer und Frauen, die verstehen, dass jede Zauberhandlung das Gleichwicht des Universums beeinflusst. Ein einsichtsvoller Magier stellt eine große Macht für das Gute dar. Doch die andere Sorte lässt ein heilloses Chaos hinter sich … auch, wenn sie es nicht völlig falsch machen.«
»Du redest wie mein Großvater«, sagte Sascha. »Er sagt, das Können eines echten Kabbalisten sei es, seine Macht gar nicht anzuwenden.«
»Dein Großvater ist ein weiser Mann«, sagte Shen anerkennend. »Je mächtiger ein Magier ist, desto größer ist die Gefahr, dass seine Magie die natürliche Harmonie der Welt zerstört. Deshalb stehen alle großen Magier, an allen Enden der Welt, irgendwann vor der Wahl: entweder in die schwarze Magie
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