Der Schattensucher (German Edition)
setzte Alkis ruhig fort, »wächst die Zahl unserer Themen mit jedem Beitrag stetig an. Man braucht nur bestimmte Worte zu nennen, um das Gemüt einiger Mitglieder dieses Senats in Wallung zu bringen. Ich schlage dennoch vor, dass wir nicht wieder von vorne anfangen und schon längst vergangene Beschlüsse des Senats infrage stellen. Wir waren, denke ich, dabei, zu diskutieren, wie wir das Überangebot von Heilmitteln in den Griff bekommen können. Es steht fest: Die Menschen sind verwirrt und ängstlich und greifen nach allem, was ihnen Rettung verspricht. Wir müssen ihnen klare Richtlinien geben, wie sie ein ernsthaftes von einem betrügerischen Angebot unterscheiden können.«
Jetzt meldete sich Thekla zu Wort. Niemand im Raum kannte sich besser in den Schriften aus – in den historischen wie in den neuen. Sie kannte Zahlen und Berichte, was sie häufig in ihre Beiträge einfließen ließ. Diesmal jedoch verzichtete sie darauf. Sie begann mit einem verächtlichen Lachen.
»Verzeiht mir, verehrter Alkis. Ich schätze Euer Wissen auf dem Gebiet der Medizin und Ihr beweist stets einen klaren Verstand. Aber hier vernebelt Ihr den Blick des Senats. Ihr spracht von ernsten und betrügerischen Heilangeboten. Könnt Ihr mir ein einziges Mittel nennen, das es jemals vermocht hat, einen Menschen von der Seuche zu befreien? Ihr wollt über chemische Substanzen streiten, darüber, welche Zutaten ein ernsthaftes Heilmittel besitzen darf. Dabei habt Ihr noch nicht einmal geklärt, ob eine Heilung überhaupt möglich ist. Bislang jedenfalls muss ich jedes Mittel, das in dieser Stadt angeboten wird, als betrügerisch ansehen, denn jeder, der von der Seuche getroffen wurde, ist letzten Endes daran gestorben.«
Sie hielt inne und schien zufrieden, dass niemand einen Widerspruch wagte. Man wusste, dass Thekla stets konkrete Fakten nachreichte, wenn man ihren Standpunkt angriff. Fast immer endete ein solcher Versuch in einer Niederlage. So mancher war froh, dass Thekla sich nur bei wenigen Themen zu Wort meldete. Wo sie sich ihrer Sache nicht sicher war, schwieg sie.
»Ich möchte noch eine Sache hinzufügen: Meines Erachtens verliert dieser Senat seine Daseinsberechtigung, wenn es nicht mehr gestattet ist, die grundsätzlichsten Fragen erneut auf den Tisch zu legen. Oder haben wir Angst, dass es eine Wahrheit geben könnte, die uns für immer entzweit?«
Sie setzte sich. Es folgte ein kurzes Schweigen. Alkis war der Erste, der sich zu Wort meldete und ihr vorwarf, Zwietracht zu säen. Ein anderer hielt ihr vor, dass die Einheit, die man über die Jahre hinweg erkämpft habe, immer durch gemeinsame Beschlüsse erreicht worden sei.
Der Streit drohte zu eskalieren, zumal einige Redner nicht mehr das Signal des Senatssprechers abwarteten. Da ließ Philus einen lauten Schrei durch den Raum hallen: »Ich bitte um Ruhe!« Es wurde still. »Nie habe ich in meiner Amtszeit einen solch ungehobelten Umgang miteinander erlebt. Schon vor einigen Minuten hat sich Senator Gereon bei mir zu Wort gemeldet. Meiner Erfahrung nach haben seine Beiträge häufig zur Klärung von Konflikten beigetragen. Bitte, Senator.«
Der weißhaarige Gereon erhob sich. Er saß unter den Kaufleuten, auch wenn er nicht immer auf ihrer Linie war. Er schien überhaupt keiner Fraktion anzugehören. Wohl deshalb schätzten ihn alle.
»Verehrte Mitglieder des Senats, vielleicht tut uns ein solcher Streit hin und wieder gut. In der Vergangenheit kam das nicht selten vor und ich denke, dass einige unserer grundlegendsten Entscheidungen aus solchen Auseinandersetzungen hervorgegangen sind. Ihr wisst, dass ich selbst nicht sehr geneigt bin, mich daran zu beteiligen oder auf eine Seite zu schlagen. Ich kann nur immer wieder feststellen, dass keine der Positionen unwichtig oder gar falsch zu sein scheint. Ja, ich stimme zu, es braucht eine Regelung, um den Betrügern mit falschen Heilmitteln das Handwerk zu legen. Und ja, wir dürfen nicht mehr ignorieren, dass die Seuche mittlerweile unser ganzes Dasein gefährdet. Es stimmt, dass wir uns anstrengen müssen, ein Gegenmittel zu finden.
Mir scheint es aber die größte Gefahr zu sein, dass wir uns durch unsere einseitigen Sichtweisen auseinanderbringen lassen. Ich möchte nicht an den Streit über die Absichten des Grafen anknüpfen. Aber ich bin der Überzeugung, dass unsere Stadt nur deshalb seit Jahrzehnten geteilt ist, weil Menschen auf ihren alten Positionen verharrt haben und nicht zulassen konnten, dass es auch
Weitere Kostenlose Bücher