Der Schattensucher (German Edition)
Gestalt des Todes so nahe gekommen wie nie zuvor. Sie hatte sich für immer in sein Gedächtnis gebrannt, als er die bodenlose Angst in den Augen des Jungen gesehen hatte, ehe der Tod über ihn hereingebrochen war. Jetzt, wo der Mann vor ihm lag, erkannte er die Zeichen des Todes viel deutlicher als damals bei der Wirtin. Er sah sie und zugleich setzte er alles daran, nicht an sie zu denken.
Er merkte kaum, dass er unentwegt die Hand des Mannes festhielt und sich nach einigen Minuten der Schweiß darin sammelte.
»Schau«, riss ihn Ramon irgendwann aus seiner Versunkenheit, »ich glaube, sein Gesicht entspannt sich.«
Jetzt bemerkte Alvin es auch. »Das Blut strömt wieder normal«, sagte er. »Bring ihm ein feuchtes Tuch.«
Noch in derselben Nacht konnte sich der Mann wieder im Bett aufrichten und seine beiden Retter anschauen. Ramon gab ihm einen Brei zu essen.
»Ich danke Euch«, sagte er mit schwacher Stimme. »Das war wohl sehr knapp.«
»Das war es«, antwortete Alvin. »Das war es.«
»Vorhin habe ich noch am Ofen gestanden. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Irgendwann muss ich hingefallen sein. Es fühlte sich an, als würde mir der Kopf platzen.«
»Eure Blutgefäße waren verdickt. Ihr hättet es nicht überlebt … die letzte Stufe der Seuche«, sagte er zu Ramon gewandt.
»Ich bin froh, dass Ihr gekommen seid. Wer auch immer Ihr seid …«
Sie blieben bei dem Mann, bis er einschlief. Am nächsten Morgen war er zu neuen Kräften gekommen und stellte sich ihnen mit dem Namen Ortwin vor. Alvin und Ramon erzählten ihre Geschichte und Ortwin bot ihnen an, so lange zu bleiben, wie sie wollten.
17. Kapitel
Briangard, Jahr 304 nach Stadtgründung
Es schien, als wäre keiner in seinem Haus geblieben. Jetzt erst wurde Levin bewusst, wie viele Menschen im Vorhof von Briangard lebten. Sie füllten den großen Platz zwischen dem Festungstor und dem Tor zum Innenhof. Die Wachen sorgten dafür, dass sie bis zum Holzpodest auf der linken Seite eine Gasse ließen. Levin musste sich durchdrängeln, um nicht zu weit von der Gasse entfernt zu sein. Es erstaunte ihn, dass die Menschen schon seit Minuten nicht mehr redeten, sondern nur noch murmelten. Während sie in ihren alltäglichen Gesprächen häufig temperamentvoll und ungezwungen miteinander umgingen, schienen sie auf einmal in einen feierlichen Bann getaucht zu sein. Sie trugen ihre besten Kleider und am Morgen hatte ein jeder sich offenbar herausgeputzt. Gearbeitet wurde nur dort, wo es nötig war.
Levin hatte rechtzeitig von diesen Gepflogenheiten erfahren und den Morgen dazu genutzt, sich ein ordentliches Kleid zu beschaffen. Vermutlich gehörte es einem der Soldaten, denn er hatte es aus einer Truhe in der Kaserne gefischt. Für Elena wollte er auch eines besorgen, doch sie wehrte ab. Sie würde schon einmal die Sachen zusammenpacken, damit sie gleich losziehen konnten, wenn das Schauspiel vorbei sei.
»Es ist unnötig, die Sachen zu packen, wir werden länger bleiben«, sagte Levin.
»Wie du meinst«, antwortete Elena. »Ich werde trotzdem nicht hinausgehen und du wirst mich nicht umstimmen.«
Er fragte nicht weiter nach, weil er in Gedanken zu sehr damit beschäftigt war, wie er weiter vorgehen würde. Er merkte, dass er seinen endgültigen Plan erst dann festlegen konnte, wenn er den Grafen gesehen hatte.
Das gibt mir ziemlich wenig Zeit zum Nachdenken , machte er sich klar. Aber ich bin es ja gewohnt, schnelle Entscheidungen zu treffen. Es ist meine letzte Möglichkeit und ich darf jetzt keinen Fehler machen.
Er stand in der zweiten Reihe, von hier aus konnte er das Tor zum Innenhof und zugleich das Holzpodest beobachten. Vor ihm waren zwei Frauen, die den Kopf bedeckt hatten. Er fragte den Knecht neben sich, was man denn zu beachten habe, wenn der Graf – nein, der Erbauer – in den Hof käme.
»Es ist wichtig«, flüsterte der Knecht zurück, »stets zu schweigen. Die Wachen hören jedes zu laute Wort.«
»Was geschieht dann?«
»Wagt es nicht, daran zu denken.«
»Muss man hier irgendwie auf die Knie gehen?«
»Natürlich gehen wir auf die Knie. Nur das erweist dem Erbauer die Ehre, die ihm gebührt. Sobald er durchs Tor zieht, müssen alle Untergebenen unten sein. Dort bleiben wir so lange, bis er uns das Zeichen gibt, dass wir uns erheben dürfen.«
»Verstehe«, tat Levin interessiert. »Verzeiht, dass ich so unwissend bin. Für mich ist es die erste Begegnung mit dem Grafen.«
»Nennt es nicht eine Begegnung! Es ist
Weitere Kostenlose Bücher