Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Schattensucher (German Edition)

Der Schattensucher (German Edition)

Titel: Der Schattensucher (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Timo Braun
Vom Netzwerk:
er prallte gegen die Schläfe des Jungen, nach einem dumpfen Schlag war es totenstill.
    Die alte Eibe an der östlichen Stadtmauer hatte schon die meisten ihrer Blätter verloren. Der knorrige Stamm ragte aus den Erdfurchen heraus wie der Mast eines untergehenden Segelschiffes. Windböen zogen durch das Geäst, bewegten es aber kaum. Von den Zweigen tropften die Reste zweier Regenschauer der letzten Nacht herab. Unten war es fast trocken, als man den Jungen in die Grube ließ. Für eine Weile schauten sie ihm nach und weinten.
    Danach begann die Trennung. Es folgten Tage wilder Auseinandersetzungen, Schuldzuweisungen und Hasserklärungen. Einer nach dem anderen verließ den Ort und zog zu anderen Feuerstellen oder Hinterhöfen des Armenviertels.
    Nur der Vater des Jungen und ein paar Freunde blieben. Das leer stehende Haus entwickelte sich zum Ort ewiger Trauer. Der Junge wurde zum Märtyrer derer, die auf die Rückkehr des Grafen hofften, damit er sie aus ihrem Elend erlöste. Nach wenigen Jahren kamen sie zu Dutzenden in das Haus und bildeten die Gemeinschaft der Wartenden . Arme und zunehmend auch reiche Menschen, die von Leid niedergedrückt wurden, schlossen sich der Gruppe an, deren oberste Prinzipien Geduld, Treue und die Erwartung baldiger Rache wurden.
    Evan flüchtete und verschwand aus dem Armenviertel. Er kam bei der Stadtwache unter, wurde Soldat und lernte einen Mann kennen, der den Bund der Ritter von Alsuna gegründet hatte. Als deren vorderster Kämpfer führte Evan sie in zahlreichen Kämpfen gegen die Getreuen des Grafen, ehe er bei einer Schlacht auf Briangard vom Schwert des Hauptmanns Jason durchbohrt wurde.
    All das geschah, ohne dass einer von ihnen die furchtbare Nacht vergaß, in der das Unheil begonnen hatte. Jeder ging seines Weges und doch blieben sie durch ihre Wunden miteinander verbunden.
    Ramons Wunden waren tief. Als er und Alvin davonzogen, ohne zu wissen, wohin sie wollten, sprachen sie kaum über die Ereignisse. Alvin suchte tröstende Worte für seinen Freund. Niemals habe er Schuld an dem, was passiert sei. Doch Ramon wiederholte immerzu, dass er den Karren nicht im Raum hätte unterstellen dürfen. Nie wieder wolle er einen Schmiedehammer in die Hand nehmen.
    Sie zogen einige Tage durchs Armenviertel, ohne einen festen Platz zu finden. An einem späten Abend entdeckten sie am Rand des Viertels, dort wo die ersten Handwerker lebten, ein offenbar leer stehendes Haus. Die Tür war offen, kein Licht schien durch die Fenster.
    »Vielleicht ist das unser Platz«, sagte Alvin. »Wollen wir es versuchen?«
    »Wenn du meinst.«
    Sie drückten die Tür weiter auf und betraten den düsteren Raum. Alvin versuchte, etwas zu erkennen. Eine Bank mit Werkzeugen war vor ihnen, im Hintergrund stand ein großer Ofen, daneben war ein Kohleberg.
    »Wir sind doch nicht etwa in einer Schmiede?«, sagte Alvin und fuhr mit der Hand über einen Amboss.
    »Offensichtlich«, antwortete Ramon in dunklem Ton.
    »Dann ist es seltsam, dass das Haus leer ist. Hier sind noch alle Werkzeuge. Niemand würde sie zurücklassen.«
    Sie gingen weiter, eine Treppe hoch, wo sich die Wohnstube befand. Auch hier war es dunkel. Wie schon in der Werkstatt unten schien nichts entfernt worden zu sein. Sogar ein angeschnittenes Brot lag auf dem Küchentisch.
    »Das Haus kann nicht verlassen worden sein«, sagte Alvin und zündete eine Öllampe an. »Irgendetwas stimmt hier nicht.«
    Sie suchten die Räume ab. Das Bett war leer und zerwühlt. Doch niemand war zu sehen. Alvin ging wieder die Treppe hinunter und leuchtete in die Werkstatt. Er hielt inne, als er ein verhaltenes, stöhnendes Geräusch hörte. Es musste aus der hinteren Ecke kommen. Er eilte hin und sah einen älteren Mann auf dem Boden liegen, der offenbar vor dem Ofen zusammengesackt war.
    Ramon kam dazu. Alvin stellte die Lampe ab und hob den Kopf des Mannes. Ganz langsam und von erneutem Stöhnen begleitet öffnete der Mann die Augen und schloss sie sogleich wieder. An den Schläfen traten die Adern dick hervor.
    »Schnell!«, rief Alvin. »Es ist noch nicht zu spät!«
    Er packte den Mann, trug ihn die Treppe hinauf und legte ihn auf sein Bett. Er zog ein Fläschchen aus der Tasche und schob es dem Alten zwischen die Lippen. Die Flüssigkeit tropfte in seinen Mund, woraufhin er kurz aufschaute und qualvoll schluckte.
    Alvin sah ihm ununterbrochen in die Augen. War das der Anblick des Todes? In der Schreckensnacht, die er vor Kurzem erlebt hatte, war ihm die

Weitere Kostenlose Bücher