Der Schattensucher (German Edition)
ist. Eurer Hingabe ist es zuzuschreiben, dass ihr mit eurer Leibeskraft diesen Ort, Briangard, stets bewahrt, beschützt und gepflegt habt. Nicht einem Menschen, der es in der Verwirrung seiner Seele wünschte, diesen Ort und seinen Erbauer fallen zu sehen, ist dies je gelungen. Durch euren Kniefall bezeugt ihr mir heute, dass eure Seele nicht verwirrt ist und ihr die Loyalität zu eurem Erbauer nicht verloren habt.«
Er machte eine längere Pause. Über die Gesichter zog ein Hauch von Entspannung und – wie Levin zu bemerken glaubte – Selbstzufriedenheit. Der Graf machte eine Geste und sie erhoben sich alle. Levin schloss sich ihnen an.
»Und doch, meine lieben Söhne und Töchter, muss ich euch mitteilen, dass ich euretwegen traurig und betrübt bin. Und auch Zorn ist in mir. Nichts scheint ihr verstanden zu haben!
Mit all eurer Hingabe tut ihr eure Arbeit und dabei scheint ihr nicht zu wissen, worum es wirklich geht. Euer Blick reicht bis zu den Mauern dieser Festung. Was dahinter geschieht, scheint es für euch nicht zu geben.«
Sie schauten betroffen auf, einige zur Innen-, andere zur Außenmauer.
»Wie oft habe ich zu euch über die Bestimmung dieses Ortes geredet. Wie oft habe ich euch gesagt, dass ich mehr von euch brauche als das Wissen um die Fünf Ehernen Regeln . Ihr kennt sie gut, ich weiß, und eure Kinder kennen sie seit frühestem Alter. Ich habe sie in eine Sprache gefasst, die ihr versteht, ebenso wie ich gerade in einer Sprache rede, die ihr versteht. Aber ich fürchte, ihr kennt meine wirkliche Sprache nicht! Oft habe ich versucht, euch diese Sprache zu lehren, aber ihr wollt sie nicht lernen. Euch genügt es, nur das zu hören, was ihr schon immer gehört habt. Ihr glaubt, das würde euch für immer Zufriedenheit und Sicherheit geben.
Aber ihr täuscht euch. Lange wird das nicht mehr möglich sein. Zu ernst ist die Lage. Zu groß ist die Aufgabe, die vor uns liegt. Die Zeit drängt und der Feind ist stark. Seid ihr auch noch auf meiner Seite, wenn euch eure Sicherheit genommen wird? Ich brauche Söhne und Töchter, die meine Ziele verstehen und denen ich wirklich vertrauen kann.
Ihr glaubt, dass ich unsterblich bin? Ja, ihr glaubt das Richtige. Aber was nützt das, wenn ihr nicht wisst, was es bedeutet, mich herrschen zu sehen?
Ich sehe es an euren Gesichtern, dass ihr betroffen seid und doch nicht verstanden habt, worum es geht. Und das lässt meine Trauer nicht vergehen. Die Zeit drängt und doch weiß ich, dass ich nichts erzwingen kann. Ich muss warten. Ich habe gelernt zu warten. Ich habe gelernt, euch zu erwarten. Und hiermit sage ich auch heute: Ich er warte euch, meine Söhne und Töchter.«
Er machte eine wehmütige Geste, suchte in den Gesichtern nach Reaktionen. Er fand dieselbe Betroffenheit, die sie schon gezeigt hatten, als er angefangen hatte.
Levin lehnte sich ganz vorsichtig zu dem Knecht hinüber und flüsterte: »Was meint er mit dem letzten Satz?«
Nervös biss der Knecht die Zähne zusammen und schaute weiter unauffällig nach vorne, während er antwortete: »Das hat nichts weiter zu bedeuten. Die Einladungsformel. Damit schließt er die Rede ab.«
»Eine Einladung in den Palast?«
»Ja doch.« Der Knecht schien nicht gewillt, noch weitere Silben zu riskieren.
»Dann darf also jeder kommen?«, fragte Levin, doch er erhielt keine Antwort mehr.
Der Graf zog wieder durch die Gasse. Wo er vorbeikam, verbeugten sich die Leute. Seine Wehmut war jedoch nicht aus seinem Gesicht verschwunden. Levin sah genau, dass er nach einem Menschen Ausschau hielt, jemandem, der ihm Grund gab, anders dreinzublicken.
Einen stolzen Mann muss man bei seinem Wort nehmen , sagte sich Levin, als der Graf näher kam. Er mag ein Tyrann sein. Er mag das Unheil in Person sein. Aber ich habe nur diese eine Möglichkeit. Wenn ich ihn vorbeiziehen lasse, habe ich verloren. Das sagte er sich und ein kalter Schauer überfiel ihn bei dem Gedanken daran, was er gleich tun würde. War es nicht genau das Gegenteil dessen, was ihn all die Jahre anderen Menschen gegenüber überlegen gemacht hatte? War nun also der Zeitpunkt gekommen, dass ihm keine andere Wahl blieb, als seine so vertraute Lebensweise hinter sich zu lassen?
Wenn es denn sein muss , schloss er sein hektisches Grübeln ab. Auf ins Ungewisse!
Er schob die beiden Frauen vor sich beiseite, sprang auf die Gasse und stellte sich breitbeinig dem Zug des Grafen entgegen, der augenblicklich zum Stehen kam.
Noch ehe die Soldaten
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